Kastute

Eine böse Stiefmutter hatte eine eigenes Kind und eine Stieftochter, namens Kastute. Die Stieftochter wurde von ihr gehasst und musste vom frühesten Morgen bis in die dunkle Nacht schuften und alle schwierigsten Arbeiten verrichten. Die Stiefmutter aber hatte keinen Finger krumm gemacht, sass nur mit dem Kind herum.

Eines Tages schickt sie Kastute zum Jäten: „Geh, Kastute, aufs Feld und jäte es sauber von allen Kratzdisteln.“

Kastute ging aufs Feld, jätete den ganzen Tag Unkraut und wurde müde. Auf dem riesigen Haufen Kratzdisteln schlief ein. Die Stiefmutter grub indessen eine Grube unter der Türschwelle und schüttete Glühkohle hinein: Wenn Kastute nach Hause kommt, fällt sie rein und verbrennt.

Am Abend ging die Stiefmutter auf den Hof und rief:

Komm, Kastute,
Komm mein Töchterlein,
das Essen steht schon auf dem Tisch,
das Bettchen ist schon gemacht.

Auf dem Zaun hockte ein Hahn. Der krähte aus voller Kehle:

Kickericki, Kastute,
Kickericki, das Waisenkindlein,
Kickericki, geh nicht nach Hause,
Kickericki, die Stiefmutter hat eine Grube gegraben,
Kickericki, hat sie Glühkohle reingeschüttet,
Kickericki, will sie dich reinschieben.

Die Stiefmutter hörte, wie der Hahn kräht, fing ihn und drehte ihm den Kopf ab. Kastute hörte aber den Hahngeschrei und ging nicht nach Hause. Sie setzte sich unter einen Busch und weinte:

Ich muss mich plagen
Ich muss mich quälen.
Meine Beinlein sind müde
Von harten Steinchen,
Meine Händlein angeschwollen
Von stacheligen Disteln.

Am nächsten Tag jätet Kastute die Kratzdisteln weiter. Die Stiefmutter ruft sie am Abend wieder nach Hause:

Komm, Kastute,
Komm mein Töchterlein,
das Essen steht schon auf dem Tisch,
das Bettchen ist schon gemacht.

Das hörte ein Hündlein, lief auf den Berg und bellte laut:

Wau wau, Kastute,
Wau wau, das Waisenkindlein,
Wau wau, geh nicht nach Hause,
Wau wau, die Stiefmutter hat eine Grube gegraben,
Wau wau, hat sie Glühkohle reingeschüttet,
Wau wau, will sie dich reinschieben.

Die Stiefmutter hörte den Hund so bellen, fing ihn und schlug tot. Kastute fürchtete sich, nach Hause zu gehen, setzte sich wieder unter einen Busch und weinte:

Ich muss mich plagen
Ich muss mich quälen.
Meine Beinlein sind müde
Von harten Steinchen,
Meine Händlein angeschwollen
Von stacheligen Disteln.

Am dritten Tag jätet sie wieder den ganzen Tag Kratzdisteln und am Abend ruft die Stiefmutter wieder nach ihr:

Komm, Kastute,
Komm mein Töchterlein,
das Essen steht schon auf dem Tisch,
das Bettchen ist schon gemacht.

Diesmal gab es niemanden, der Kastute vor der listigen Stiefmutter warnen könnte, und sie ging nach Hause. Unter der Schwelle war eine Grube voll von Glühkohle. Die Stiefmutte stand in der Tür und fragte Kastute: „Hast du die Felder fertig gejätet?“ „Ja“, antwortete Kastute. Dann brachte die Stiefmutter ein Tuch und sagte zu ihr: „Binde dir die Augen zu und komm ins Haus herein.“

Doch in dem Augenblick kam starken Wind, zerstreute Feuerfunken bis zur Wiege, wo das Kind der Stiefmutter lag und zündete die Wiege an. Die Stiefmutter rannte zu ihrem Kinde, stolperte, fiel in die Glühkohlengrube rein und verbrannte ganz und gar, dass von ihr kein Knöchelchen blieb.


Quelle: Übersetzung aus: "Pasaku skrynele. 10 lietuvisku pasaku", Mazojo Vyturio leidykla, Vilnius, 2002, von Vilija Gerulaitiene.
Email-Zusendung 8. März 2006.
© Vilija Gerulaitiene