Das kleine Halbhähnchen

Es lebten einmal in La Chassoule zwei Frauen, welche Schwestern waren; die eine hieß Cati und die andere Mariechen. Sie hatten keine andere Habe als einen Hahn, den sie sich teilen mußten, das war die ganze Erbschaft, die sie beim Tode von Vater und Mutter erhalten hatten. Und die Schwestern teilten ihn so, daß jede eine Hälfte erhielt. Die Cati sagte: "Ich werde meinen Anteil essen, das soll eine gute Frikassee geben, ich werde dazu Kastanien rösten und Molken trinken, und ich werde trefflich schmausen." "Das werde ich nicht tun," sagte Mariechen, "ich werde den meinigen aufbewahren, komme, was da mag, und werde ihn der Hut Gottes und des heiligen Martin anvertrauen." Der Fortgang der Erzählung wird uns zeigen, daß diese Frau mit ihrem guten Herzen für ihre edle Handlung belohnt wurde. Ihr kleines Halbhähnchen zeigte sich wirklich dafür erkenntlich, wie ihr gleich sehen werdet.

Eines Tages war es auf dem Acker und scharrte in einem Maulwurfshaufen, da fand es eine Börse voll Louisdors, die es eilends seiner Herrin zutrug. Auf dem Wege aber begegnete ihm ein schlechtes Subjekt, welches ihm die Börse aus dem Schnabel nahm und in sein Tasche schob. "Du wirst sie mir wiedergeben, oder ich werde dich verklagen", sagte das kleine Halbhähnchen zu ihm. "Mach, was du willst," sagte der Dieb, "aber mit dem Verklagen wirst du kein Glück haben, denn ich gehe heim nach Paris und nehme die Börse mit." "Gut, dann werde ich dich in Paris verklagen," erwiderte sein Gegner und ging zu seiner Herrin, um ihr von seinem Plan Mitteilung zu machen. Sie sagte: "Wohin willst du gehen? Es ist doch umsonst!" Halbhähnchen antwortete: "Ich will meine Börse haben, und ich werde sie wiederbekommen." Dann ging es fort.

Auf dem Wege begegnete ihm der Wolf, welcher zu ihm sagte: "Wohin gehst du denn, kleines Halbhähnchen?" "Wohin ich gehe? Ich gehe nach Paris, um zu prozessieren; wenn du mit mir gehen willst, so komm!" "Was sagst du da, armer, kleiner Schelm? Mit meinen vier Beinen werde ich doch viel eher dort sein als du mit einem!" Der kleine halbe Hahn erwiderte: "Der, welcher zuerst ankommt, muß auf den andern warten." Und der Wolf eilte voraus.

Ein wenig später begegnete Halbhähnchen dem Fuchs. Die nämliche Frage, die nämliche Antwort, die nämliche Einladung. "Du wirst nicht so schnell gehen wie ich," sagte der Fuchs, "ich werde vorangehen und auf dich warten." "Geh, wer zuerst ankommt, muß auf den andern warten!"

Drei Meilen weiter traf Halbhähnchen einen Fluß, der zu ihm sagte: "Wohin gehst du denn so eilig, kleines Halbhähnchen?" "Ich gehe nach Paris, um zu prozessieren, wenn du mit mir gehen willst, so folge mir!" "Ich werde rascher gehen als du", sagte der Fluß. "Wie du willst; der, welcher zuerst ankommt, muß auf den andern warten!" Aber unglücklicherweise traf der Fluß auf einen Berg und konnte nicht hinüber. "Steig in meinen Hintern, ich will dich tragen," sagte das kleine Halbhähnchen, und der Fluß schlüpfte in seinen Hintern.

Noch weiter traf es einen Bienenschwarm, und die Bienen fragten es, wohin es gehe. "Ich gehe nach Paris, um zu prozessieren, wollt Ihr mir folgen?" "O nein, das ist zu weit, wir würden unterwegs müde werden!" "Gut, steigt in meinen Hintern, so will ich euch tragen." Die Bienen taten, wie ihnen geheißen war.

Das arme kleine Halbhähnchen marschierte noch lange Zeit, und es war nicht mehr fern von Paris, als es in einer Schonung an der Seite der Landstraße den Wolf und den Fuchs fand, welche wie zwei Siebenschläfer schnarchten. "Was tut ihr da, ihr, die ihr so schnell gehen wolltet und vor mir in Paris sein wolltet?" sagte es zu ihnen und hackte sie mit dem Schnabel auf die Nase, um sie aufzuwecken. "Wir fallen vor Müdigkeit um und können nicht weiter gehen!" "Steigt in meinen Hinteren, ich will euch tragen!"

Endlich kam es gegen Ende des Tages nach Paris, als eben die Sonne unterging. Es war derart zerschlagen, daß sein armer Fuß es schmerzte, als krabbelte ein Ameisenhaufen darin. Es begab sich zu seinem Prozeßgegner, welcher zu ihm sprach: "Es ist heute zu spät zur Verhandlung, warten wir bis morgen. Inzwischen wirst du mit uns zu Abend essen, wir wollen einen Schoppen trinken, und ich werde dir ein Lager anweisen, wo du ganz gemütlich schlafen kannst." "Gern," sagte Halbhähnchen, "zwei gute Prozeßhansl können gut miteinander zechen." Als es Nacht wurde, wollten der Mann und seine Frau das arme einfältige Halbhähnchen umbringen, um es los zu werden; sie ließen es im Schafstall übernachten, um es zertreten zu lassen. Sobald es eingetreten war und die Türe mit dem Schlüssel versperrt hatte, begannen wirklich die Schafe, die Widder und sogar die Lämmer mit den Köpfen nach ihm zu stoßen. "Wolf," sagte es, "steige aus meinem Hintern und friß mir das alles!" Der Wolf tat alles, was man von ihm verlangte.

Am andern Morgen war der Herr des Hauses hübsch aufgebracht, als er sah, daß alle seine Schafe tot waren, während das kleine Halbhähnchen ganz allein im Stalle lebte. Schnell ging er, um es seiner Frau zu erzählen. "Pst, pst!" sagte diese biedere Seele, "die nächste Nacht stecken wir es zu unserem Geflügel; die Hennen, die Truthühner und die Gänse werden ihm solange mit Schnabelstößen zusetzen, bis es langsam umkommt, und das wird gut sein." Gesagt, getan. Sobald sie das arme Halbhähnchen unter Dach gebracht hatten, stürzte sich das ganze Geflügel auf es, ohne ihm Zeit zu lassen, sich auf eine Stange zu setzen. Einer stieß es mit dem Schnabel auf den Kamm, einer riß ihm die Schwanzfedern aus, ein dritter zerrte es an den Schwungfedern. Solches verdroß das Halbhähnchen, obwohl es sonst eine gute Seele war, und es sagte zum Fuchs: "Fuchs, steige aus meinem Hintern und mache mir diese dreckigen Viecher kaput!" So geschah es, und am folgenden Tage, als die Frau in ihren Geflügelstall ging, war sie noch mehr aufgebracht als am Tage zuvor, da sie den Schaden sah.

Der Zorn stieg ihr zu Kopf, sie rief ihren Mann und flüsterte ihm ins Ohr: "Die nächste Nacht wollen wir es in unserem Backofen schlafen lassen, und den wollen wir mit Buchenklötzen heizen. Der Teufel soll es holen, wenn wir es morgen nicht gebraten finden." Beim Frühstück sagte der Mann zum kleinen Halbhähnchen: "Heute ist es mir auch nicht möglich, Prozeß zu führen, der Verlust meines Viehbestandes hat mich zu sehr aufgeregt!" "Wie du willst," erwiderte das kleine Halbhähnchen, "mir eilt es nicht, ich habe Zeit zu warten." Abends nach dem Essen sagten der Herr und die Frau des Hauses zu ihm: "Vielleicht hat dich die vorhergehende Nacht gefroren; heute nacht sollst du im Backofen schlafen, da wird es wärmer sein." "Wie ihr wollt," sagte es, "ich bin nicht heikel, ich fühle mich überall wohl." Als es im Backofen war und fühlte, daß sein Fuß verbrannte, sagte es zum Fluß: "Steig aus meinem Hintern und mach mir mein Bett frisch; es ist mir viel zu warm." Der Fluß trat heraus, füllte den Backofen mit Wasser und dann auch die Waschküche, das Waschfaß, das Laugenfaß und alle Gegenstände, die sich in dem Raume befanden. Die Bäche liefen sogar hinaus, so daß man hätte glauben können, es habe eine ganze Woche lang geregnet.

"Was tun wir nur mit diesem Lump", sagte die Frau, der das Wasser überall in die Schuhe lief, als sie die Füße bis zum Knöchel in die Wasserlachen hineintauchte. "Wir müssen es", erwiderte der Gatte, "bei uns am Fußende des Bettes schlafen legen, da werden wir es durch Stöße mit der Ferse zu Mus zerquetschen." "So ist es, lieber Mann, du hast einen Verstand wie ein Engel! Auf diese Weise wird es uns nicht entgehen können." Als sie alle drei im Bett lagen, begannen der Mann und die Frau mit den Füßen zu arbeiten und das arme kleine Halbhähnchen zu treten. Anfänglich dachte es, sie wollten es nur zum Besten haben und mit ihm scherzen oder es nur kitzeln. Aber schließlich wurde es ärgerlich und sagte zu den Bienen: "Steigt aus meinem Hintern und stecht sie tüchtig!" Ihr hättet sehen sollen, wie geschwind sie sich erhoben und nur im Hemd durch das Haus und auf die Straße liefen. Endlich ließen sie die Bienen in Ruhe. Die Frau sagte ganz außer Atem zu ihrem Manne: "Das ist kein Hahn, das ist der Werwolf, der Teufel, der Antichrist! Gib ihm seine Börse, damit er uns in Frieden läßt, er richtet uns sonst noch zugrunde!" Und wirklich taten sie dies in aller Eile. Der Mann gab dem kleinen Halbhähnchen seine Börse wieder, und dieses machte sich auf den Heimweg, um seiner Herrin das Geld zu bringen. Mit dem Geld kaufte sie ein hübsches Anwesen, und alle beide lebten seitdem glücklich bei ihrer Arbeit. Das kleine Halbhähnchen insbesondere hat seine Zeit ohne Sorgen verbracht und ohne sich um den folgenden Tag zu kümmern, denn seine dankbare Herrin hat es nie an Kleie, Hirse und Hanf fehlen lassen.

Kakalaka, mein Geschichtchen ist aus.

Quelle: Ernst Tegethoff, Französische Volksmärchen. Jena, 1923. Band 2, Nr. 45