Der Mann im Monde

Vor langer Zeit lebte einmal ein Mann, der seine Frau wenig gut behandelte. Eines Tags schlug er sie wieder, obwohl sie schwanger war. Spät am Tag ging er dann Seehunde jagen. Es war eine klare Nacht, Sterne und Mond schienen hell. Da rief die Frau den Mann im Mond an und bat ihn herunterzukommen. Gegen Morgen hörte sie jemand mit Hunden sprechen und sah einen von zwei Hunden gezogenen Schlitten. Es war der Mann vom Mond und seine beiden Hunde Terii-tiaq und Kanageak. Der Mann vom Mond rief ihr zu: "Komm heraus!" Sie folgte und er hieß sie sich auf seinen Schlitten setzen. Dann befahl er ihr die Augen zu schließen und sie nicht früher zu öffnen, als bis sie an ihrem Bestimmungsort angekommen wären. Sie schloß die Augen und dann schwebten sie aufwärts durch die Luft. Nach geraumer Zeit sagte der Mann vom Mond: "Mach jetzt deine Augen auf!" Sie antwortete: "Ich glaube, wir sind angekommen." Sie sah sich um und bemerkte ein Schneehaus. Die beiden traten ein. Innen war alles sehr hübsch. Der Mann lud sie ein bei ihm zu bleiben und sagte: "Du sollst auf der linken Seite gegenüber der Haustüre sitzen." Er selbst setzte sich auf die rechte Seite, der Lampe gegenüber. Nach einiger Zeit bat er sie, zu ihm herüber zu kommen und zeigte ihr dicht bei seinem Sitzplatz ein Loch, durch welches sie auf die Erde hinunter sehen konnte. Sie konnte ihren Mann in Kleidern voll Schnee und Eis vor seiner Haustür sitzen sehen. Er war gerade vom Seehundsfang zurückgekehrt und hatte die Abwesenheit seiner Frau entdeckt. Sie war sehr erstaunt, trotz der großen Entfernung, alles so klar zu sehen.

Da sagte der Mann im Mond zu ihr: "Es wird jetzt bald eine Frau namens Ululiernang hereinkommen. Lache über nichts, was sie tun wird, sonst schneidet sie dir die Eingeweide heraus; sie ist ganz versessen auf solche Speise. Wenn du merkst, daß du dir das Lachen nicht verbeißen kannst, steck deine linke Hand unters Knie und streck sie dann aus mit allen Fingern, vom zweiten Glied an abgebogen, nur den Mittelfinger mußt du ausstrecken." Kaum hatte er das gesagt, als auch schon Ululiernang herein kam. Sie trug ein flache Schüssel und ein Frauenmesser. Sie stellte beides hin und fing eine Menge Possen an. Sie nahm den Vorderlatz ihrer Jacke, rollte ihn zusammen und hielt ihn vor, als wollte sie sagen: "Weiche ja nicht von diesem Weg ab!" Und sie machte viele Luftsprünge, um die Frau zum Lachen zu bringen. Als die Besucherin sich schon nah daran fühlte, herauszulachen, zog sie die Hand unter dem Knie hervor und streckte sie gegen Ululiernang. Da sagte diese: "Ich habe große Angst vor diesem Bären." Sie glaubte die Hand der Frau sehe genau wie eine Bärenpratze aus. Dann aßen der Mann und die Frau zu Mittag. Nach einiger Zeit sagte der Mann im Mond zur Frau, es wäre jetzt Zeit, auf die Erde zurückzugehen und sobald dein Kind geboren sein wird, wirst du ein Geräusch hören, als ob etwas heruntergefallen wäre. Du mußt dann hinausgehen und nachsehen, was es ist." Dann brachte er sie zurück auf die Erde; zur Hütte ihres Mannes.

Ihr Mann erzählte ihr, wie unglücklich er sich gefühlt, als er bemerkt hatte, daß sie weggegangen war. Er hatte sie schon tot geglaubt. Dann erzälte sie ihrem Mann, was sich alles zugetragen hatte.

Nach einiger Zeit gebar sie das Kind. Es war ein Knabe. Ihr Gatte war wieder beim Seehundsfang und sie war allein. Da hörte sie etwas fallen und ging hinaus, um zu sehen, was es sei. Sie fand einen Renntier-Schinken, den sie in die Hütte nahm. Am Abend kam ihr Gatte zurück und als er das Renntierfleisch sah, fragte er, woher sie das bekommen hätte. Sie erzählte, daß es vom Himmel gefallen sei: "Es ist vom Mann im Mond, der versprochen hat, mir etwas zu schicken." Als nach einiger Zeit alles Fleisch aufgegessen war, ging der Mann wieder auf Seehunde aus. Die Frau hatte kein Fett für ihre Lampe. Auf einmal sah sie Fett heruntertropfen, zuerst in die eine, dann in die andere Lampe. Als die Lampen voll waren, rief sie "das ist genug!" Sie wußte, daß auch das ein Geschenk vom Mann im Mond war. Abends kam ihr Mann zurück. Er war erstaunt, als er das Öl sah und fragte, woher es komme. Sie erzählte: "Die Lampen haben sich selbst gefüllt und wie ich sah, daß genug Fett da war, sagte ich ,halt'!"

Den nächsten Tag ging der Gatte wieder hinaus Seehunde jagen. In seiner Abwesenheit hörte die Frau wieder etwas fallen und als sie hinausging, fand sie wieder einen Renntierschinken. Am Abend kam der Mann zurück und hatte einen Seehund erlegt. Er fragte: "Hast du noch Renntierfleisch?" "Ja!" erwiderte sie "der Mann im Mond hat mir wieder welches gegeben." Abends sah dann der Mann, wie sich die Lampen mit Öl füllten.

Als er am nächsten Tag wieder auf der Seehundjagd war, erbeutete er einen anderen Seehund und brachte ihn nach Hause. Während er ihn zerlegte, sagte er zu seiner Frau: "Hier ist doch genug Seehundsfleisch, warum ißt du nicht davon? Ich selbst habs ja erlegt." Die Frau hatte bisher nur Renntierfleisch gegessen, das ihr der Mann vom Mond gegeben hatte; jetzt verzehrte sie etwas vom Seehund ihres Mannes. Von dieser Zeit an fiel nie mehr Renntierfleisch vom Himmel und ihre Lampen füllten sich nicht mehr mit Fett. Bald wurde sie krank. Das Renntierfleisch war aus und sie starb. Auch ihr Kind starb. Der Übergang von Renntierfleisch zu Seehundsfleisch, während das Kind noch so klein war, war so schädlich gewesen, daß er den Tod des Kindes verursacht hatte.

Quelle: Eskimomärchen, übersetzt von Paul Sock, Berlin o. J. [1921], Nr. 27, S. 98.
aus: F. Boas, Eskimo, in: Bulletin of the american Museum of natural history (Vol XV, New York 1907).