INSEL NEUWERK

Dort, wo die Wellen der Elbe und der Nordsee gegeneinander rollen, liegt Neuwerk mit den flachen Ufern, dem hohen Leuchtturm und den einfachen Häusern der nur wenigen Bewohner. Diese unterhalten karge Verbindung mit dem Festland oder der Felseninsel Helgoland, und noch seltener setzen Fremde ihren Fuß auf diesen öden Strand.

Vor tausend Jahren - so erzählt mancher der märchenkundigen Fischer - war das anders. Das Eiland erhob sich von allen Seiten stolz und kühn aus der wogenden Flut empor; es war mit üppigen Gärten und schattigen Hainen bedeckt; goldene Früchte hingen an silbernen Ästen, und aus dem smaragdenen Boden blitzte es auf wie Sonne, Mond und Sterne. Ein balsamischer Duft strömte von dem lebensglühenden Strand auf das offene Meer hinaus.

Eine mächtige Königin lebte hier, nur mit der Erziehung ihrer Tochter und dem Wohle ihres Volkes beschäftigt. Und das gelang ihr, denn keine glücklicheren Sterblichen waren zu schauen als die Bewohner dieser Insel. Was sie wünschten, ward ihnen gewährt. Darum liebten sie auch ihre Gebieterin sehr; wenn sie sich mit ihrem Töchterchen zeigte, war große Freude im Lande und alle riefen: „Es lebe unsere Mutter, die gute Königin und die huldreiche, schöne Prinzessin!"

Ja, sie war schön, schön, wie noch niemals ein irdisches Geschöpf, schön wie ein Wesen aus vollkommenen Welten. Wer sie anblickte, und wäre er noch so unglücklich gewesen, dessen Angesicht leuchtete und Seligkeit lachte aus seinen Augen. Darum nannte man sie auch Augentrost, und wer einmal einen guten Tag haben wollte, der suchte sich der Prinzessin zu nahen und blickte ihr in das hellstrahlende Auge.

Aber was allen Bewohnern des Eilandes Glück und Ruhe gewährte, das war auch bestimmt, zu ihrer Vernichtung beizutragen.

Die Schönheit der Prinzessin war nicht allein in ihrer Heimat bekannt. Auch jenseits der Wellen, die diese glückliche Insel umrauschten, vernahm man davon, und das tausendzüngige Gerücht erzählte Wunder über Wunder. Und kaum war dies geschehen, als es nicht an Prinzen fehlte, die herbeieilten, um die Prinzessin für sich zu gewinnen. Aber keiner unter allen, die kamen, vermochte es, das Herz der jungen Schönheit zu rühren, und die Mutter hatte nichts zu tun, als die Bewerber einen nach dem ändern mit einem zierlich geflochtenen Korb nach Hause zu schicken.

Endlich ward es wieder still auf der Insel, denn die hochgeborenen Freier wurden es müde, um nichts die Gefahren des Meeres zu bestehen. Alles ging seinen gewohnten Beschäftigungen nach, bis ein unerwartetes Ereignis die ganze Insel in Angst und Schrecken setzte.

Die Prinzessin hatte sich eines Morgens kaum von ihrem Lager erhoben und die einfache Toilette vor dem hellgeschliffenen Diamantspiegel beendigt, als sie plötzlich gestört wurde.

„Prinzessin Augentrost! Prinzessin Augentrost!" rief es vor dem Fenster. „Gönne mir doch einen Augenblick die Wonne deines Anblicks, denn mein Herz ist traurig und ich will schier vergehen vor Schmerz."

Mitleidig, wie die Prinzessin immer war, eilte sie sogleich, dem Bittenden seinen Wunsch zu erfüllen; aber als sie auf den Balkon trat, schrie sie laut auf, denn unerwartet stand ein mächtiger Riese vor ihr. Er stützte sich mit beiden Ellenbogen auf das Geländer des Balkons, und das große, unförmlich gestaltete Haupt ruhte zwischen beiden Händen.

„Grüß dich Gott, schönes Prinzeßchen! Betrachte mich einmal genau und sage mir dann, ob ich nicht ein stattlicher Freiersmann bin? Du siehst in mir den Wasserkönig von Wangerooge und ich komme hierher, um eine Königin für meinen Palast und ein Weib für mein Bett zu werben. Für beides bist du mir gut genug; darum schlage ein und folge mir in deine neue Heimat."

Die Prinzessin, auf das äußerste erschrocken, wagte kaum, die Augen aufzuschlagen, und lispelte nur, daß Seine Majestät sich mit seinem Gesuch an die Königin-Mutter wenden möge: denn so sei es in diesem Lande Sitte, und kaum hatte der Riese sich dem Wunsch gefügt, als die Prinzessin voll Angst und Schrecken das Schloß verließ und in dem entferntesten Teil des Gartens ihrer Lieblingslaube zueilte.

Aber als ob der heutige Tag dazu bestimmt sei, sie fortwährend in Aufregung zu halten, wich sie auch hier vor Erstaunen zurück, als sie ihren Lieblingsplatz bereits besetzt fand. Diesmal war es aber nicht banges Grausen, was ihren Schritt hemmte, sondern ein süßes Staunen bemächtigte sich ihrer, und eine leichte Röte färbte ihre Wangen. Ein holdseliger Jüngling, der so fein gebaut war, daß er aus Morgenluft und Rosenschein gewebt schien, stand vor ihr und verneigte sich bescheiden: „Wolle mir nicht zürnen, daß ich es gewagt habe, dich in deinem Heiligtum aufzusuchen; aber schon lange belausche ich dich von ferne, und mein Herz ist in heiliger Liebe zu dir entbrannt, das kann ich nicht länger verschweigen. Ich bin der Beherrscher der Blumeninsel Terschelling, und wenn du mich für würdig hältst, mein reiches Erbe mit dir zu teilen, hast du mich für immer glücklich gemacht."

Der Prinzessin schienen diese Worte so viel Vergnügen zu bereiten, daß der Prinz dadurch ermutigt wurde, seine Bewerbung fortzusetzen, und beide wurden einig, daß der Prinz bei der Königin-Mutter feierlich um die Prinzessin anhalten sollte. Darauf trennten sie sich mit den heiligsten Versicherungen ihrer Liebe und gingen auf verschiedenen Wegen dem Schloß zu.

Unterdessen hatte sich der Wasserkönig von Wangerooge bei der alten Königin melden lassen, und da er wegen seiner ungewöhnlichen Länge nicht durch das Schloßportal in das Innere gelangen konnte, war die hohe Dame genötigt, ihm die Audienz in dem großen Hofraum zu gewähren. Zum Erstaunen und Schrecken des ganzen Hofes brachte nun der Riese seine Werbung an; aber ehe noch die Königin irgend etwas von dem erwidern konnte, was man bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegt, trat die Prinzessin zu ihrer Mutter, und sie leidenschaftlich an sich pressend, schrie sie: „Ich will ihn nicht! Ich will ihn nicht!"

„Nicht?" schrie der Wasserkönig und tat einen Schritt vorwärts, daß die Erde ringsum erbebte. „Und warum nicht?"

Da trat der Blumenprinz von Terschelling hervor und sagte keck: „Aus vielen anderen Gründen und auch darum nicht, weil wir bereits einig sind, und ich gerade im Begriff bin, um ihre Hand anzuhalten." Und damit trat er zur Königin; Prinzessin Augentrost aber rief: „Der ist es, den ich hebe und den ich mir vor allen anderen auserwählte."

Als die Hofleute und das Volk das vernahmen, erhob sich allgemeines Beifallsjauchzen, der Riese aber schlug eine so helle Lache an, daß er alles betäubte. Zugleich hob er den schönen Prinzen vom Boden auf und sagte: „Jetzt sollt ihr sehen, daß Wasserkönig nicht allein ein mächtiger Riese, sondenx auch ein gewaltiger Zauberer ist. Ich nehme dieses Bürschlein aus eurer Mitte, und damit dieses Männlein mir meine Freude nicht fernerhin verderbe, will ich ihn unschädlich machen."

Er fuhr mit seiner gewichtigen Hand über die zarte Gestalt des Prinzen hin, so daß alle vor Angst laut aufschrien, und als der Prinz die Arme ausstreckte, sich zu verteidigen, verwandelten sich diese in zwei Flügel, zu derselben Zeit wuchs aus seinem Gesicht ein langer Schnabel hervor, ein hellglänzender Busch von farbigen Federn bedeckte den Kopf, und die Füße gestalteten sich zu Klauen. Er war dabei so zusammengeschrumpft, daß er nicht größer als ein Papagei erschien; aber die Pracht seines Gefieders übertraf alles, was man bis dahin gesehen hatte.

„Ich gehe jetzt!" rief der Wasserkönig, „aber bald kehre ich wieder, und dann fürchtet meinen Zorn, wenn ihr euch nicht besonnen habt."

Der Riese hielt Wort. Er schritt mit dem so unglücklich verwandelten Prinzen durch das Meer zu seiner Insel, sperrte ihn in einen kunstvoll vergitterten Käfig, und kehrte darauf zu dem Reich der Prinzessin Augentrost zurück.

Seinen Zweck erreichte er aber nicht, denn beharrlich wurde er mit schnöden Worten abgewiesen und wegen seines Frevels hart angefaßt. Darüber erboste er sich sehr und rief mit zornglühenden Augen: „So sei es denn! Ich lasse von meiner Werbung ab, aber von diesem Augenblick an ist auch euer Verderben von mir beschlossen. Liebt nur immer euren unbärtigen Prinzen, der jetzt in seinem Bauer hin und her flattert, aber ihr sollt ihn und das Sonnenlicht nicht wiedersehen."

Mit diesen Worten sprang er rücklings ins Meer und tauchte unter. In demselben Augenblick verfinsterte sich der Himmel, ein fürchterlicher Sturm erhob sich und wühlte die tiefste Tiefe des Meeres auf. Die armen Insulaner erhoben ein lautes Wehklagen, aber ihr Jammerton verschmolz bald mit dem Heulen des Windes und der Flut. Als aber nach vielen Stunden der Tag anbrach, sah man mit Grausen, welche Zerstörung das Unwetter angerichtet hatte. Die Wellen hatten den Boden des Meeres aufgewühlt, diesen stückweise auf die Insel der Prinzessin Augentrost geschleudert, so daß diese samt ihrer Mutter und allen ihren Untertanen, samt allen Schlössern und Gärten darunter begraben lag, und ein hoher Sandhügel sich aus der unruhig hin und her wogenden Flut erhob.

Der Riese tauchte aus den Wellen auf, näherte sich dem Hügel und schrie: „Jetzt jammert in Eurem Grab darüber, schöne Prinzessin, daß Ihr mich verschmäht habt, und macht, daß Ihr Euch eines Besseren besinnt, damit dieser Zustand ein Ende nimmt. Am Schluß jeden Jahres will ich den Prinzen zu Euch senden, der mag Euch fragen, sich selbst zur Schmach, wie Ihr gegen mich gesinnt seid, und sobald Ihr mich mit Eurer Einwilligung beglückt, löse ich den Zauber, der Euch und ihn gefangen hält. Bis dahin träumt in Eurem finsteren Kerker von eitel Sonnenschein!"

Er entfernte sich schnell und in seinem Reich angekommen, trat er zu dem verwandelten Prinzen, der traurig in seinem Käfig saß und die Flügel hängen ließ: „Harre in Geduld, bis das Jahr endet, dann öffne ich deinen Käfig. Du fliegst zu dem Reich der Prinzessin Augentrost und fragst, ob sie ihre Gesinnung geändert hat. Glaube aber nicht, dich meiner Macht zu entziehen; ich weiß dich zu finden!"

Da freute sich der verzauberte Prinz sehr, und als das Jahr um war, flog er über die See, setzte sich auf den Sandhügel, der den Kerker seiner Geliebten deckte und rief: „Ich frage dich nicht, wie du denkst, denn das weiß ich vorher. Traue meinen Worten, ich befreie dich aus deinem Gefängnis. Treue Liebe vermag alles. Jetzt aber ruft mich mein tyrannischer Gebieter zurück und ich darf nicht länger weilen. Lebe wohl!"

Er flog weg, indem er seinen Schnabel mit Erde füllte, die er von dem Grab seiner Geliebten aufpickte und weit davon ins Meer fallen ließ.

So geschieht es Jahr um Jahr, und indem er seinem Herrn dieselbe abschlägige Antwort bringt, trägt er immer mehr Erde weg, hoffend, die schuldlos eingekerkerte Geliebte endlich zu befreien. Und wonach er strebt, das wird ihm gelingen, denn schon ist der Hügel verschwunden, und nur eine glatte Fläche ist sichtbar. Wenn aber hohe Sturmfluten kommen, decken sie bereits einen großen Teil davon mit ihren rollenden Wogen.

Dies sind die Worte, mit denen ich die Sage aus dem Munde eines alten Fischers empfing. Als ich aber ein ungläubiges Lächeln nicht unterdrücken konnte, sprach er verweisend: „Es steht geschrieben: Und wenn ein Vogel der Wildnis käme, und flöge zu dem Gipfel des höchsten Berges in Mesopotamien und trüge jedes Jahr nur ein Sandkorn hinweg, das er ins Meer senkte, so würde endlich der Berg von der Erde verschwinden, aber Gottes Gnade und Güte bleibet ewiglich. Die höchste Gnade und Güte aber, die Gott uns erzeigte, ist, daß er die reine und uneigennützige Liebe in unser Herz pflanzte, und wer sie im kindlichen Geiste empfangen und erkannt hat, der wird an sie glauben in der Einfalt seines Herzens."


Quelle: Heinrich Smidt, Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen, zweite vollständige Ausgabe 1849