Im Modegeschäft verschwunden

Vor zwanzig Jahren hatte eine gegen den Mädchenhandel kämpfende Aktivistin eine Frankreichreise organisiert, um in den Rathäusern vorzusprechen: Während ihrer Rundreise wies sie in jeder Stadt auf die unsichtbare Gefahr hin, warnte Eltern und junge Mädchen, klagte über die Trägheit der Behörden.

Kurze Zeit vor oder nach ihrer Ankunft in Laval wurde die Stadt von einer Sage über Mädchenhandel in Aufregung versetzt. Einige Jahre später präsentierte die volkstümliche Illustrierte Noir et Blanc, die inzwischen ihr Erscheinen eingestellt hat, das folgende Szenario (das in Wahrheit dem Skandalbuch L'Esclavage sexuel ["Die sexuelle Sklaverei"] entnommen ist) als eine "vor kurzem geschehene" wahre Begebenheit:

"In Grenoble fuhr ein Industrieller seine junge Frau zu einem eleganten Konfektionsgeschäft der Stadt. Er wartete eine halbe Stunde, eine Dreiviertelstunde, und schließlich wurde er ungeduldig. Erfragte im Geschäft nach seiner Frau und erhielt die Antwort: 'Wir haben sie hier überhaupt nicht gesehen.' Da sich unser Industrieller völlig sicher war, daß er beobachtet hatte, wie seine Frau den Laden betreten hatte, schöpfte er Verdacht, ließ sich aber nichts anmerken. Er entschuldigte sich, stieg wieder ins Auto und fuhr zum nächsten Polizeirevier. Die Inspektoren, die bestimmte Gründe hatten, das betreffende Geschäft zu verdächtigen, umstellten bald das Gebäude und begannen mit der Durchsuchung. Sie sollten die in tiefem Schlaf liegende junge Frau in einem Hinterzimmer des Ladens entdecken. Die Polizisten bemerkten am rechten Arm der Frau einen Einstich: Man hatte ihr eine Betäubungsspritze gegeben."

Eine Woche nach der Veröffentlichung dieses Artikels kam in Orleans das Gerücht auf, das dem gleichen Szenario folgte. Noch Jahre später findet man es beinahe wortgetreu wieder: Im März 1985 hatte ein sehr bekanntes Damenkonfektionsgeschäft in La Roche-sur-Yon unter dem gleichen Gerücht zu leiden.

Quelle: Noir et Blanc, 6. - 14. Mai 1969, in: Jean-Noël Kapferer, Gerüchte - Das älteste Massenmedium der Welt, Paris 1987/95, Leipzig 1996, S. 45