Sagen um den Untersberg

Vor einem Jahr ging ich an einem Sommermorgen durch den kühlen Schacht des Neutors. Ich wollte in das Moor hinausgehen, über welches der blaue Untersberg heraufragt, von der Farbe des Himmels nur durch kleine Schneeflächen abgehoben, welche noch auf seinem Grat schimmerten. Ich dachte an die Erzählung Hrodgars im Beowulf und an

Die dunkeln Geister, in Düsternis
Bewohnen sie Wolfsschluchten, windige Klippen,
Das fahrvolle Fennmoor, wo in Felsenströmen
Unter nächtlichen Klüften niederstürzt die Flut,
Den Werder unterwühlend.

Indem ich nach ihren Wohnsitzen hinüberschaute, verlor ich nachsinnend den mittäglichen Glanz aus den Augen, der allmählich in der schwülen, wäßrigen Moorluft zitterte, und gab mich in die Zaubersphäre gefangen. Aus den Säulen und Haufen der Sommerwolken, die am dunkeln Himmel aufstanden, erhob sich in mir das Bild eines Riesenbaumes, Yggdrasil, welcher grünen wird, wenn die guten Götter wiederkommen. Ich schritt hier über einen Boden hin, in welchem künstliche Sagen Juvavum versunken glauben - jene Stadt, deren Namen gelehrter Blödsinn als 'Helfenburg' bezeichnet - ein Versinken, welches im Ernste zu widerlegen sich mancher Gelehrte herabwürdigte. Dieser selbe Gelehrte hätte mehr Gewinn von seinem Nachdenken gehabt, wenn er es statt auf die versunkenen Mauern auf die im Berge eingeschlossenen Gestalten gerichtet hätte.

Man weiß, daß die alten Asen untergehen und erst nach langen, dunklen Kämpfen verklärt in eine umgewandelte Welt wieder hervortreten. Man weiß ferner, daß im Bewußtsein des christlich gewordenen Volkes die riesigen Gestalten der alten Götter nach und nach in die sagenhaften Helden einschrumpften. Statt des neuen Himmels und der neuen Erde hatten die Leute später nur mehr die Vorstellung von einer 'besseren Zeit', welche kommen wird, wann die ‚Helden' wieder auferstehen. Yggdrasil, die Weltesche, welche erst mit der neuen Erde wieder grünen wird, wird zum Birnbaum, der Knospen treibt, wenn der Kaiser aus dem Berge tritt.

Aus den Einberiern, Odins Genossen in Walhall, dem Totenheer der wilden Jagd, sind Ritter und Reisige geworden, und aus Surturs Flammen, welche die alte Welt vertilgen, als deren Erneuerung eine glänzendere ersteht, der Türkenzug, der bis an den Rhein geht und zugleich die blutigste Zerstörung wie die herannahende neue Glorie Germaniens bedeutet. Die Raben Hugin und Munin, Gedanken und Erinnerung, welche einst dem Gott auf seinem Throne alles, was auf der Welt geschah, in die Ohren raunten, haben hier dem Kaiser zu berichten, ob die jämmerlichen Gaugrafen und Winkelfürsten sein Volk noch immer durch ihre Fähnlein machtlos halten. Der ursprünglich allgemeine metaphysische Gedanke verblaßte so vor dem aufsteigenden Gestirn der neuen Religion zu einer verworrenen Sage. Der Gott stieg zum Kaiser, die wiedergeborene Welt zum wiedergeborenen Deutschland, die Helden des Walhall gar zu Hofadeligen herab, der Baum der Zeit zum Birnbaum, dem politischen Wetterzeiger.

Einen Grundgedanken hat die verblaßte noch mit der lebendigen Anschauung gemein. Beide hoffen. In der Mythe von der neuen, schönen Welt wie in der Sage vom wiedergeborenen Deutschland steckt ein idealer, optimistischer Zug. Ihr Paradies liegt nicht in der Vergangenheit, wie das mosaisch-christliche, sondern in der Zukunft. Darüber wird sich jeder nach Anlage und Erfahrung von den Dingen der Welt seine eigene Meinung bilden - entzündliche, jugendliche Bildungen sind geneigt, an die neue grüne Erde zu glauben. Ich für meinen Teil denke, daß die Weltesche wohl unzählige Mal Grünen und Welken sehen wird, bis sie der schließliche Tod ereilt und daß, solange diese Kugel belebte Wesen trägt, die Weisheit von Odins Rabenzauber bestehen mag:

Nornen weisen,
Alfen verstehen,
Menschen dulden.

In volkstümlicher Beziehung dagegen möchte wohl niemand geneigt sein, der Sage allen Wert abzusprechen. An ihr hat sich schon manches sehnsüchtige Gemüt aufgerichtet.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë , München 1867, S. 15 - 19.