See-Einsamkeit

Den Weg am öden Gestade, an das unablässig die Welle rollt, geht selten ein Mensch. Ein Jäger vielleicht, in brauner Joppe mit Gewehr und Bergstock, die Pfeife mit dem übelriechenden Soldatenknaster im Mund, oder ein Knecht, der einen mit Streu beladenen Schlitten zieht, sind die einzigen, denen wir begegnen. Draußen schießt manchmal der braune Seeadler in die Welle und verschwindet mit einem blinkenden Schuppenträger in den blauen, widerhakigen Krallen. Unmutig flattern die Seeschwalben an den beschneiten Ufern über die finstere Flut. Hier und da liegt ein alter, halbverfaulter Stamm im Wasser, laichenden Fischen ein willkommener Zufluchtsort. Die Alpenrosenbüsche, die im Juli den felsigen Strand mit purpurnen Stäußen schmücken, ragen nur mit ihren Spitzen, oft vom weißen Berghasen benagt, aus der dichten Schneedecke. Die Bergföhre, die hier bis ans Wasser herabsteigt, wird aber von dieser nicht gedrückt; denn niedrig und leicht vom Winde bewegt, schüttelt sie sich die frostige Last bald vom Leibe, daß es aussieht, als ob nur blinder Zufall einige spärliche Flocken über sie ausgestreut hätte.

Der unter den Felswänden gegen die Brücke zu immer höher angehäufte Schnee trieb mich endlich wieder in meine Behausung, zur viellieben Scholastica zurück. Ich nahm am viereckigen Kachelofen Platz, an dem einige nasse Socken der Holzknechte zum Trocknen aufgehängt waren, zündete mir eine 'Havanna' zu vier Neukreuzer ö.W. an, fuhr in der Probe des Südländers fort und betrachtete mir, was in der festlichen Stimmung des Tages vorging. Die Kirche, deren Feste sonstwo belebend und erheiternd auf das Volksleben einwirken, hat hier einen kargen, fast asketischen Geist unter die Leute gebracht. So sieht man den Hausvater, der jetzt in anderen Gegenden des Vaterlandes, selbst wenn er wenig besitzt, in freudevoller Tätigkeit für die Überraschung seiner Lieben tätig ist, hier schweigend im dumpfen Zimmer sitzen und große Rosinen aus kleinen ausklauben, zur Bereitung des 'Kletzenbrotes', des einzigen Luxus, welchen er zur Feier des herrlichen Festes kennt. Denn der Heilige Abend, zwar in allen katholischen Ländern ein Fasttag, ist doch hier von besonderer Strenge, und wenn man die gedrückten Gesichter der Mägde betrachtet, die im Lichte des ergrauenden Tages stumm an den Spinnrocken sitzen und ihr Rädchen schnurren lassen, so möchte man sich eher in den Büß- und Bettag eines Arbeitshauses versetzt glauben als in eine Zeit, welche unserm Andenken so teuer ist. Es ist eine Zeit goldener Märchen, aus welcher noch dem verlassenen Manne die Bilder des Weihnachtsbaumes, seiner lächelnden Eltern, die längst entschlafen sind, und ihrer gutgemeinten teuren Geschenke winken - einer Zeit, die er dazu noch im Glänze der weihevollsten Stunden seines sinkenden Lebens, der Stunden seiner Jugend, sieht.

Nur das strenge Fasten und die Mitternachtsmesse in der kalten Kirche machen hier die Weihnacht. Statt des liebelächelnden Christkindes, das sich unsichtbar in geschmückte Häuser niederläßt und Geschenke spendet, sieht das Tiroler Kind bloß den goldbedeckten Priester am Altar und hört in der Finsternis die Glocke, welche sonst um diese Stunde der Nacht nur erschallt, wenn Fluten und Lawinen Verderben und Tod drohen. Draußen 'beim Land', das heißt in den größeren Tälern Tirols, besonders im Inntal, wo durch Eisenbahnen und sonstigen Verkehr fremdartige Sitten in das alte Rhätien hereingeschleppt werden, sieht man wohl hier und da einen lichterglänzenden Baum. Doch ist das immer noch vereinzelt und wird auch von gewisser Seite, der nicht nur diese Lichter zuwider sind, nicht gern gesehen.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 296 - 298.