Von Reutte zum Heiterwanger- und Plansee

Die Landschaft um Reutte, welche man von der Lechbrücke zu Füssen aus betrachtet, ist ein unvergleichliches Bild der Voralpenwelt. Der vielgestaltige Boden mit seinen tannigen Büheln (Hügeln), aus welchen sich die grünen Wellen des Stromes herauswinden, hinter denen die mächtigen Kalkgebirge emporragen, gegen Norden gewendet, die sonnige Ebene, die weiten Fluren und die blauen niedrigen Hügel im fernsten Gesichtskreis. Das alles bedeutet jenes fröhliche Land vor dem Eingang der Berge, farbenbunt, mannigfaltig, jäh abwechselnd, dessen Wesen zu der Natur der Dinge dort jenseits der harten Wälle in einem Gegensatz steht wie der launische Frühling zum Sommer.

Es gibt wenige Orte in Tirol, die von allem Anfang an so anheimeln wie Reutte. Wer längere Zeit bleibt, empfindet den Eindruck mit jedem Tage angenehmer. Viel mag dazu der Mittelpunkt beitragen, den die gebildeten Einwohner für ihren Verkehr im Posthaus finden. An manchem Abend wurde beispielsweise im hellerleuchteten Saal ein Schießen mit Zimmergewehren veranstaltet, an welchem sich nicht nur wackere Schützen, sondern auch schöne Schützinnen beteiligten. Den Männern verflossen viele Stunden in ihrem Leseverein, einer Anstalt, welche in Tirol von den einflußreichen Mächten als eine Pflanzstätte verderblicher Neugierde und ein Bruthaus umziemlicher Gedanken betrachtet wird. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich Reutte gar sehr von anderen Marktflecken des Landes. Hier wird der Fremdling Regentage über den Büchern, die er auf der Post findet, wohl hinzubringen vermögen.

Heiterwang, das nächste Dorf auf dem Weg von Reutte nach Ehrwald, liegt am Fuße des vielgenannten weitschauenden Thaneller. Man lobt die Aussicht auf dem Gipfel, der indessen an Höhe gegen einige seiner Nachbarn, Hohe Munde, Wettersteingebirge und selbst die Sonnenspitze über Lermoos, ziemlich zurückbleibt.

In mattem Schneeglanz, vom Tauwind überhaucht, hoben sich heute die Giebel über die Fläche des Heiterwanger, der südlichen Fortsetzung des Plansees, die unter Eis und tiefen Schneeverwehungen vergraben lag und einen Vorübergehenden, der sich nach dem Seespiegel umsah, höchstens dadurch auf dessen Vorhandensein aufmerksam gemacht hätte, daß auf einer ansehnlichen Strecke weder ein Baumwipfel noch ein Zaunpfahl noch ein Felsblock aus dem weißen Grunde emporragte. Ich wollte es anfangs selbst nicht glauben, daß der tiefgrüne Wasserabgrund zwischen den Bergen, der mir aus der letzten Sommerreise gegenwärtig war, so gänzlich unter dem öden Winter versunken sein sollte. Doch ein armes Weib, welches eben in einem Tümpel von Schneewasser einige Lumpen wusch, half mir über meine Zweifel hinweg. "Gerad' dort unter den Fichten ist der See!" sagte sie, indem sie auf denjenigen Teil des Tales hinwies, in welchem kein Gegenstand die tiefe Schneedecke unterbrach. Ich erinnerte mich an einen sommerlichen Gang zum größeren Plansee, der sich nördlich an den Heiterwanger See anschließt. Auf jenem Wege lernt man die eine und andere Eigentümlichkeit kennen, welche im grünen Grenzgebirge den Wanderer erfreuen. Da ist beispielsweise eine Alpe mit Ahornbäumen. Ein Anblick, dem in den südlicheren Berggebieten nichts Vergleichbares entgegengestellt werden kann: Ahorne, weitschattende, mit den großen grünen Blättern, werden schwerlich auf irgendeinem Weidegrunde zwischen der Zillertaler Ache und den Jamtaler Fernern gefunden. Zwischen den Ahornbäumen aber stehen die braunen Häuser der Sennen, nicht armselige Hütten, sondern wohlgezimmerte Ansiedelungen, und neben ihnen strömt langsam in Windungen ein Bach, glasklar, daß die Kiesel des Grundes glitzern und der rasch vorüberschreitende Wanderer mit Lust die Herden betrachtet, die sich an seiner Flut erlaben. Und sie sind nicht gering an Zahl, die Hornträger, die Pferde und die Füllen, welche sich im fetten Lattich seiner Ufer stehend tränken. Die 'Gatter' und ihre Eingangstore, welche den Grund versperren, sind wohl verwahrt, daß nicht Eindringlinge sich am Mahle beteiligen oder Flüchtlinge in den Bergen verlaufen und auf eignem Fuß Sommerfrische halten.

Am neugierigsten sind die Roßherden. Füllen, die von den zweibeinigen Quälern noch die beste Meinung haben, kommen zutraulich heran und trollen ihnen nach. Staub, Schweiß und Peitsche, knechtische Marter sind ihnen unbekannt. Und nebenan grasen die abgearbeiteten Mütter.

Graues Wurzel- und Stockwerk verschwundener Stämme sowie rauher Luftzug künden das Joch, dessen jenseitiger Hang zum Ammerwald und zum Plansee abstürzt. Dort erleichtert der Pfad das Absteigen durch Dutzende von Windungen. Nur Baumwipfel und graubraune Höhen erreicht der Blick.

Eine Einsamkeit umwebt die Mulde, wie weit und breit nicht mehr. Ein schier endloser Wald beschattet den Pfad, der vom See ins Ammergau führt. Bevor aber dieser sausende Tannengrund erreicht wird, fehlt es nicht an Schmuck in der Öde. Wasserfälle rauschen nieder, und üppiger gedeihen die Blüten. Noch zur Zeit der Sonnenwende duften Maiglöckchen an den feuchten Buchenhalden.

Der Plansee wird durch einen Engpaß erreicht, eine Miniaturschlucht mit niedlichen Felskulissen mit vortretenden und zurückgebogenen Wänden, offenbar von einem Wasser durchgerissen und zur Pforte geschaffen, dessen Überrest der grüne Bach ist, der da eilt, um seinen kurzen Lebenslauf im See zu beschließen. In geringer Entfernung von diesem Tor, bis zu welchem vielleicht einst seine Flut vordrang, liegt der See.

Die Bücher berichten von ihm, daß er der zweitgrößte des Berglandes Tirol sei und einen friedlichen, aber düsteren Eindruck hervorbringen welchem sich jeder Fremdling nach der empfangenen Anweisung hingeben mag.

Freilich trifft in dieser Hinsicht das Kommando der roten Führer mit der Wirklichkeit zusammen: es gibt unter den größeren Wasserspiegeln aller Alpen keinen öderen. Erst auf dem Griesener Wege indessen, an seinem Ostufer, geht uns die landschaftliche Bedeutung solcher Verlassenheit auf: der Säuling und die Reutter Berge schauen starr auf die Fläche herab, bald grün, bald blau wallt die Flut über weiße Untiefen und dunkle Abgründe, menschliche Laute werden nicht vernommen.

Auch mag es nicht ohne Reiz sein, sich der Flut in der hölzernen Herberge zu erfreuen, welche man nunmehr in sie hineingebaut hat. Oft erzittert sie von den Schlägen der Wellen, wenn der Westwind sie antreibt. Vor den Fenstern liegt es dunkel. Dem einsamen Zecher bietet der Anprall und der rote Wein, das feste und doch schwanke Haus im Wogenschlag Stoff zu lyrischer Betrachtung. Dunkle Zukunft und durchsichtige Gegenwart, schwarze Seefernen und klare Uferwellen umgeben das zitternde Menschenwerk.

Auch dem Idyll, welches kundige Städter in den Alpen aufsuchen, wird entsprochen. Wenige Schritte vom See entfernt strecken Säue ihre Köpfe aus dem Verschlag, in welchem sie zu körperlichem Gedeihen herangezogen werden, und selbstzufriedene Wiederkäuer betrachten, im Gras gelagert, leidenschaftslos die grüne Seefläche.

Dem gebildeten Wanderer rate ich, an den Forellenbächen, durch duftige Buchenwölbungen, an Wasserfällen und anderem Hausgerät der Bergriesen hinab zum Griesenpaß und dann zum Ehrwald zu gehen, und ich füge bei, daß er seinen Pfad nach den Fernseen fortsetzen möge, die so grün sind wie das Grün im Tautropfen, wenn ihn die östliche Sonne durchstrahlt.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 335 - 339.