Kreuzwegstationen beim Mariasteiner See

Wer von Kufstein an das Inntal hinaufgeht, sieht eine breite Mulde, deren Ränder das Mittelgebirge sind, über das sich dann wieder die hohen Kalk- und Übergangs-Gruppen erheben. Er wird nicht auf den Gedanken geraten, daß zwischen dem Fluß und dem höheren Mittelgebirge sich noch Gründe hinziehen von einer Ausdehnung, welche stundenlange Wanderungen auf ihren Erhebungen und in ihren Mulden zulassen.

Um die Natur dieser versteckten Örtlichkeiten zu schildern, wähle ich mehrere Strecken aus, welche sämtlich nördlich vom Schienenwege, das heißt zwischen diesem und der hohen Kalkkette, liegen, welche die Grenze gegen Bayern bilden.

Wir stellen uns in den breiten Kahn und fahren nach dem jenseitigen Ufer des Inn. Während dieser Fahrt werden wir erstaunt den Fluß betrachten, der sich wild unter einer mächtigen Felswand her, einem jener wenig bekannten Zwischengebirge des Inntales, Bahn bricht.

Ich machte diesen Weg zum ersten Mal an einem Märztage. Die Weiden hatten schon ihre Blütenkätzchen angesetzt, und nicht selten vernahm man den Gesang der Drossel. Hier lag noch vieler Schnee, während von Landeck an bis über Schwaz hinab in der Talsohle selbst keine Flocke mehr zu sehen war. Daran mag die Drehung schuld sein, mit welcher der Strom ungefähr in der Nähe von Kundl plötzlich nach Norden umbiegt.

In geringer Entfernung vom Dorfe Agnet beginnen bei einer gelben Kapelle die Stationen des Kreuzweges, welche über einen prächtigen Waldhügel hin nach dem hochgelegenen Wallfahrtsort Maria Stein führen.

Dieses Maria Stein, auf einem Flysch-Schutthügel, hart am Abfalle des Kalkgebirges gelegen, nenne ich eine der lieblichsten Örtlichkeiten im ganzen Inntal. Die grüne Abgeschiedenheit von der übrigen Welt, die wunderliche Kirche auf dem hohen Felsblock, der kleine dunkle See, die parkähnlichen Fußwege in den duftigen Wäldern, welche überall von den Bergwassern durchrauscht werden, würden es, wäre im Gasthause mehr Raum vorhanden, in jedem anderen Lande schon längst zum Zielpunkt solcher gemacht haben, welche die Ruhe einer herrlichen Bergeinsamkeit suchen.

Die vielgerühmte Kapelle ist in der Weise auf einem gewaltigen Felsblock aufgemauert, daß, von Norden aus betrachtet, ihre Wand erst auf dem Rande des Felsens beginnt, südlich dagegen bis auf den ebenen Boden reicht. Das Wunderlichste bei der Anlage dieses Heiligtumes besteht aber darin, daß man die Kapelle selbst unter das Dach des Turmes verlegt hat, so daß man auf einer steilen Wendeltreppe zwischen dicken Mauern sechs bis sieben Stockwerke hinaufsteigen muß, um zu den Betstühlen zu gelangen.

Die Kapelle selbst ist reichlich mit Gold und zahllosen Votivtafeln bedeckt. Sie ragt hoch über das alte Freundsberger Schloß empor, welches sich ebenfalls an den Felsblock anschließt, und wird von Andächtigen zu allen Zeiten des Jahres viel besucht. Jeden Samstag wird ein 'Wetteramt' gelesen, bei welchem sich viele einfinden, denen etwas am Schütze ihrer Fluren liegt.

Am Schloß entlang steigt man auf steilem Pfade zum See hinab, welcher sich hart an den grauen Stein andrängt. Dieser See, von welchem eine Sage geht, daß er mit dem Wasserbecken der über ihm aufragenden 'Hundsalm' in unsichtbarem unterirdischem Zusammenhang stehe, ist im Winter schöner anzuschauen als im Sommer, weil er zu jener Zeit eine reichlichere und reinere Flut enthält. An einem Märzmorgen, an welchem die kalten Berge in die sich erwärmende Luft dampfen und das Tauwetter im Schnee knistert, dünkt dir das durchsichtige grüne Gewässer gar das Urbild eines Bergsees, wenn du es von der Klause aus betrachtest, unter welcher ihm der Bach entströmt. Im Sommer dagegen wird seine Anmut durch die Binsen und andere Sumpfgewächse beeinträchtigt, welche sich vom Ufer aus weit gegen ihn hineindrängen. Doch ist es auch da schön, in später Abendstunde hinauszugehen und über den See hinweg vielleicht ein rotes Alpenfeuer zu betrachten, welches hoch oben an der Jochwand hängt.

Die angenehmste Seite der Mariasteiner Örtlichkeit ist jener Waldweg, welcher links vom Schwarzhörndl, der Kegelalp und anderen Jöchern überragt wird. Von deren Graten schaut man in die innere Thiersee, in das zitherberühmte Landl und in das grüne Tal der bayerischen Zell, lauter Orte, welche durch den beginnenden Alpenkultus und die Ausflüge der Münchener Malerschule vor vierzig Jahren zu hohen Ehren gelangt sind.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 249 - 251.