Auf der Goldzeche am Zirm See

"Wen trifft es diesmal, über Weihnachten das Haus zu hüten?" sagte der Hutmann der Knappen, als sie bei einer Lampe um den mächtigen Ofen herum saßen.

Es entstand eine Pause. Niemand wollte sich zur Übernahme dieser Aufgabe melden. Die Männer sind wetterhart, aber sie gehen gern in die Heimat, die meisten haben Weib und Kind. Und wenn sie daran denken, daß kein Haus im ganzen Weltteil so hoch über den Wohnstätten der Menschen aufgebaut ist wie dieses, so überkommt sie in der Winternacht mitunter trotz aller Gewöhnung ein grauses Gefühl.

"Wen trifft's?"

Keine Antwort. Nur verlängerte Züge aus den Tabakpfeifen.

"Bleib halt ich", sagte ein großer, starkknochiger Mann, indem er sich von der Bank erhob.

Der Hutmann besann sich eine Weile und entgegnete: "Mir ist's recht, daß der Windische Sepp heroben bleibt. Heimgehen kann er über die Feiertage doch nicht. Das ist zu weit für ihn. Aber es ist halt doch schreckbar einsam da heroben. Will ihm denn nicht einer Gesellschaft leisten?"

Aber die Frage traf nur stumme Zuhörer.

"Also bleibt der Sepp allein", fuhr der Hutmann fort.

Gegen Mittag des nächsten Tages hörte die Arbeit in der Grube auf. Die Knappen rüsteten sich zur Abreise, um die festliche Zeit in der Heimat zuzubringen.

Man nahm ein wenig Brot und Branntwein mit auf den Weg. Da der Sepp 'gamen', das heißt das Haus hüten, sollte, so ließ man ihm Mundvorrat auf acht Tage zurück. Allerdings sollten die Knappen schon nach vier Tagen mit neuen Vorräten wieder zum Berge fahren. Aber es konnte schlechtes Wetter eintreten, der Gang verzögert werden - und besser ist besser.

Der vom Hutmann gefürchtete Südwind hatte sich gegen Mittag schon einigermaßen fühlbar gemacht.

Auf einmal wankte das Haus wie in einem Erdbeben. Man hörte das Klirren der eisernen Spangen und Haken, mit denen das Dach des Hauses in die nebenan ragende schützende Felswand eingelassen ist.

Wie wenn ein Geschoß unter die Knappenschar eingeschlagen hätte, flog diese auseinander. Den meisten hatte der Schreck die Zunge gelähmt, nur wenige schrien: "Die Lawine!"

Bald sahen sie, daß nicht nur über ihnen eine Lawine losgebrochen war, sondern allenthalben im weiten Halbkreis des Gletschertales. Die eine hatte die andere wachgerufen. Berge waren hinabgerollt. Die meisten lagerten über dem Zirm See. Dort, wo im kurzen Sommer das Wasser die Felsblöcke mit dem Brande der Alpenrosenkelche widerspiegelt, dort lag es jetzt hochgetürmt von zusammengepreßten und herabgewetterten Flocken. Keine menschliche Einbildungskraft konnte sich vorstellen, daß an der Stelle dieses weißen Berges jemals ein ebenes glänzendes Becken gewesen sein mochte.

Den zu Tal gestürzten Bergen folgten in den von ihnen aufgerissenen Furchen winzige Nachzügler, unbedeutendes Schneegeröll.

Das Haus hatte keinen besonderen Schaden gelitten. Ein kleines Stück des Daches am Eck war abgerissen, und der Schornstein fehlte. Er lag jetzt auch unten in den weißen Berg eingekeilt, der sich dort erhob, wo der Zirm See flutete. Die Flut war jetzt ein unter dem Berg zersplitterter, zerriebener Häufen von Eisplatten.

Die Knappen nahmen die Hüte ab und sprachen das Gebet nach, welches der Hutmann ihnen vorsagte. So verehrten die einsamen Männer die Macht, die über allem waltet.

Nunmehr wurde der Abstieg angetreten. Jeder grüßte den Sepp und wünschte ihm einen glücklichen Heiligen Abend und gute Feiertage.

Lange schaute er den Kameraden nach, wie sie über die herabgerollten Hügel auf- und abstiegen.

Er war jetzt allein in der Wüste der Hohen Tauern, im Angesicht der Kälte und des starren Schweigens.

Als der rote Schein der Abendsonne verblich und alles zuerst fahl, dann schwarz wurde, überkam ihn aber doch ein Gefühl, welches er bis dahin nicht gekannt hatte. Es ergriff ihn die Sehnsucht nach Menschen, nach irgendeinem der dürftigsten Häuser des Hochgebirges. Dann konnte er plaudern und von der Festzeit reden.

Aber bei einem der tapferen Männer mit den wettergefurchten Gesichtern, die auf den Hohen Tauern arbeiten, kann solche Empfindsamkeit nicht lange vorhalten. Sie wich, als er sich die Lampe in der großen Stube anzündete.

Dann brannte er sich seine Tabakpfeife an und nahm dem festlichen Tage zu Ehren das einzige Buch zur Hand, welches sich in der Knappenstube befand und gewiß schon über ein Jahrhundert der Andacht gedient hatte. Man sah dies an den abgegriffenen Blättern, an deren Rändern sich die Finger in der Farbe des Grubengesteines vielfach abgedrückt hatten. Es war eine Sammlung von Heiligenlegenden.

Mit Staunen durchlas der Mann, dessen kindlichem Sinn keinerlei Zweifel aufstieg über die tatsächliche Wirklichkeit der berichteten Begebenheiten, die Seiten dieses Buches.

Oft begegnet es dem einsamen Menschen, daß ihm weit entlegene Zeiten in einem flüchtigen Augenblick zusammenzufließen scheinen. Während dieser blitzschnell durch seine Vorstellung zieht, unterscheidet er nicht, ob es ein Bild aus der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft ist, was er ihm bringt.

So geschah es dem Knappen. Es war ihm, als säße er, ein Kind, in seinem Gitterbettchen und hörte die Stimme der Mutter, welche ihm vorsagt: 'Vater Unser, der Du bist im Himmel!'

Wie verrannen die Stunden? Er verspürte es nicht. Es war nun der Augenblick gekommen, in welchem die Menschen der Tiefe den ersten Glockenhall vernahmen, der sie zum mitternächtigen Gottesdienst ruft.

Zu dieser Stunde geschah etwas Wunderbares. Es däuchte dem Einsamen plötzlich, als ob er etwas davon hörte. Und dennoch wußte er, daß dies unmöglich ist. Überrascht ging er in das Vorhaus. Dort hörte er den Hall noch deutlicher. Als er aber die schwere Tür geöffnet hatte und in der Richtung gegen das Tal hinabhorchte, blieb die Luft stumm. Kaum war er wieder in der Flur, so ließ sich der Hall abermals vernehmen, und diesmal wieder stärker.

Es fehlte wenig, und er fürchtete sich. Es kam ihm alles plötzlich so seltsam vor. Er ging wieder hinein und flüchtete sich zu seiner Lampe, als ob das eine Gesellschaft wäre.

Aber jetzt war keine Täuschung mehr möglich. Die Töne kamen aus dem Innern des Berges, aus dem Stollen, der in das Vorhaus, in die Flur mündet.

Hatten seine Gedanken schon vorher, insbesondere auch als Nachwirkung des erschütternden Ereignisses vom Nachmittag eine Richtung nach dem Übersinnlichen genommen, so überkamen ihn jetzt eindringend die Schauer einer anderen Welt. Er wagte es nicht, nach der Tür zu gehen.

Diese Mühe wurde ihm erspart, denn jetzt hallten die Tritte auf dem Gange. Schon bewegten sie sich der Tür zu. Nun wurde an das Holz und das Eisen derselben gerührt.

Die Tür öffnete sich, und während der Sepp sie regungslos anstarrte, traten drei Männer herein, alle schwarz, in Bergmannstracht, gekleidet. Sie blieben einen Schritt vor der Schwelle stehen. Hätte der Knappe seine Besinnung gehabt, so wäre ihm nicht entgangen, daß sie schier ebenso betroffen waren als er selbst. Das dauerte aber nur einen Augenblick. Dann nickten sie ihm grüßend zu und gingen, ohne ein Wort zu sprechen, auf die Lade zu, in welcher der Hutmann seine Schreibereien verwahrte. Sepp war unfähig, ein Wort zu sprechen. Einer der Männer öffnete die Lade, suchte unter den dort liegenden Papierstücken herum und holte eine Mappe hervor. Von den gespannten Blicken seiner zwei Genossen verfolgt, breitete er ihren Inhalt auf dem Tische aus, der sich gerade unter der Lampe befand und von welchem sich Sepp zurückgezogen hatte, um den Ofen als Bollwerk zu benützen. Schweigend betrachteten sie die Papiere.

Man hätte den Flug eines Schmetterlings in der Stube vernehmen können, so still verhielten sich alle.

Niemals in seinem späteren Leben hat Sepp angeben können, wie lange dieser Auftritt dauerte. Endlich legten die drei Männer die Papiere in den Kasten zurück. Bevor sie das Zimmer verließen, nickten sie abermals dem Knappen zu. Dann gingen sie hinaus, lautlos, wie sie gekommen waren. Noch ein klirrendes Geräusch, und die Schritte entfernten sich, im Stollen verhallend.

War das Wirklichkeit oder Traum? Mag dem sein, wie immer, es war die Christnacht des armen Sepp.

Er wagte es nicht, das Lager in der Schlafstube aufzusuchen, sondern schlief gegen Morgen ermattet auf der Ofenbank ein.

Als er die Augen aufschlug, war es spät am Vormittag. Doch zeigte dies nur die Uhr an, denn draußen herrschte noch Dämmerung. Der Christtag hatte sich schlimm eingestellt. Vom Südwind war unermeßliches Gestöber über Berg und Tal hereingeweht worden, eine Schneemenge, unter welcher bereits die Unebenheiten der gestern herabgewetterten Lawinen verschwanden. Noch immer schneite es. Im warmen Winde fielen Flocken, nach der Ausdrucksweise der Bergbewohner so groß wie Leintücher. Sepp begriff, daß er von der Welt abgeschnitten war, denn bei solchem Schneefalle hätte ein ganzes Heer von Menschen mit allen Hilfsmitteln das Berghaus nicht zu erreichen vermocht.

Gegen Abend bebte die Bergwelt abermals unter Lawinen. Der Sturm riß von den Berghalden ganze Felder frisch gefallenen Schnees ab, nahm sie hoch mit sich hinauf, zerrieb sie wirbelnd in Berge von Staub und ließ sie als solche, bei zeitweiliger plötzlicher Erlahmung seiner Kraft, hier und dort in die Tiefe fallen, um sie alsbald wieder ins Tal zu jagen oder auf einen anderen Berg hinzuwerfen.

Sepp sah ein, daß man ihm lange Zeit hindurch nicht würde Hilfe bringen können. Er setzte sich demnach anfänglich die tägliche Zehrung selbst herab, aber schon am dritten Tage nahm er wahr, daß er auf diese Weise sicher verhungern müsse. Er ließ deshalb verzweiflungsvoll sein Sparsystem fallen und aß, als ob die Kameraden schon morgen zurückkehren könnten.

Aber es schneite fort, Tag und Nacht, ohne Aufhören.

Endlich wurde das dem Knappen so unerträglich, daß er das Haustor aushob und mit aller Gewalt sich einen Schacht zum Licht zu graben unternahm. Nach zweitägiger Arbeit ließ er davon ab. Die angehäuften Wehen schienen dort undurchdringlich. Lag ja doch das Tor, wie die meisten Fenster, gegen Süden, von woher es stöberte. Nunmehr geriet er auf den Gedanken, auf der Nordseite einen Teil der Bedachung abzubrechen und dann sich durch den Schnee zu wühlen. Wider Erwarten gelang ihm dies rasch. Schon nach zweistündiger Arbeit schoß das Licht in breitem Strome herein.

Aber welch ein Licht! Es war wieder das herrlichste Wetter geworden. Keine Wolke zog über den Himmel hin. Der arme Knappe mußte die geblendeten Augen schließen.

Nun machte er sich an die andere Arbeit, einen Schacht von außen her gegen eines der Fenster zu graben, damit er am Tage einige Helle in der Stube habe. Das war von oben herab leichter, weil er sich die Stellen aussuchen konnte, an welchen der Schnee augenscheinlich weniger dicht gegen das Haus anlag. Noch vor Mittag hatte er die Arbeit vollendet und ein Fenster erreicht.

Der Hunger quälte. Jetzt erschreckten ihn allerlei Phantasien. Er meinte, die drei schwarzen Männer hätten ihm den Hungertod geweissagt. Die Angst der letzten Tage verwirrte ihm die Sinne. Dennoch verzagte er nicht.

Wozu waren denn die Säcke aus Schweinehaut, die oben auf dem Dachboden lagen? Gewiß nicht bloß zum Erzhinabschleifen nach dem Pochwerk. Er brauchte ja nur die Borsten abzubrühen und sie in Riemen zu schneiden. Gebraten oder gesotten waren sie gewiß ein ausgiebiges Nahrungsmittel. Und gibt es ein fetteres Fett als das der Unschlittkerzen? Es war zum Braten der Striemen zu verwenden, aber auch zum Einbrennen der Suppe, falls er sie sott.

So vergingen abermals fünf Tage. Am sechsten versagte die Zunge den Dienst. Sie würgte ihm den Erzsack nicht mehr hinunter.

Nunmehr aber schwand die Kraft rasch. Fünfzehn Tage waren seit dem Heiligen Abend hingegangen, die Schwelle des neuen Jahres längst überschritten.

Es war der Abend des Dreikönigsfestes. Indessen spähte Sepp in fiebernder Sehnsucht nach der Tiefe.

Fast dämmerte es schon. Aber es war noch so hell auf der dem Lichte wieder geöffneten Flur, daß ihre entlegensten Winkel überschaut werden konnten. Da - unmittelbar neben dem Eingang zum Stollen - was war denn das?

Ein Korb. Als ihn Sepp anrührte, klirrte es. Das war das nämliche Klirren, das er am Heiligen Abend nach dem Abgange seines unheimlichen Besuches vernommen hatte. Dieser Gedanke zuckte ihm sofort durch den Kopf. Wein, sechs Flaschen; geräuchertes Fleisch; Brot; süßes Backwerk. Ein solches Fest der Erscheinung ist noch nie gefeiert worden. Nicht im Schnee der Hohen Tauern, nicht bei den Gastmählern der Tiefe. Der Knappe sang die halbe Nacht fort. Ein Wanderer des Volkes der Hohen Tauern hätte glauben können, es sei einer jener dingenden Knappend einer der vor Jahrhunderten verbrannten protestantischen Bergleute, die jetzt als Geister in der Tiefe des Bergwerkes lutherische Lieder singen.

Zwei Tage später näherten sich schwarze Punkte. Es war die Hilfe.

"Ein bissl lang ausgeblieben, Sepp", sagte der Hutmann.

"Hast dich wohl gut unterhalten?"

Am Abend erzählte der Sepp ihm seine Geschichte - den Auftritt mit den drei Männern aber zuletzt.

"Weiß alles, lieber Sepp", unterbrach er ihn. "Schau, ich habe doch ein Vorgefühl gehabt, sonst hätte ich, wie früher, das Haus auf Weihnachten leer gelassen. Aber ich dachte mir, der Schlaufuchs, der Hutmann vom Rauriser Goldberg drüben, wird einmal die Gelegenheit benutzen und herüberkommen und unsere Pläne durchstöbern. Es ist eine alte Überlieferung, daß unsere Stollen irgendwo drüben in Salzburg mit den Raurisern zusammenstoßen. Ich hab' es immer geglaubt.

Jetzt haben wir den Beweis. Der Hutmann hat mir nach Döllach hinaus geschrieben und alles gebeichtet. Sie haben sich Wein und Essen mitgenommen, um sich bei uns da heroben einen lustigen Tag zu machen, denn sie wollten auch den Christtag über da bleiben. Schade, daß ich . nicht heroben war, wir wären recht lustig gewesen. Aber die Pläne hätten sie freilich nicht zu sehen bekommen."

Der Sepp schämte sich und wollte sich entschuldigen.

Der Hutmann aber fuhr lächelnd fort: "Brauchst dich nicht zu schämen, Sepp, war manchem Hochgelehrten auch nicht besser gegangen. Verflixte Geschichte das, so ein Besuch aus der Unterwelt. Es war ihnen aber selbst nicht wohl bei der Geschichte, wie sie dich so haben dasitzen gesehen. Der Hutmann schreibt's, da lies!"

Nach einer Weile fügte er noch bei: "Nu, und da haben sie halt für dich einen Teil von ihrem Imbiß zurückgelassen. Den anderen Teil haben sie später mitten im Stollen verzehrt. War kein schlechter Spaß für sie - sechs Stunden her, sechs Stunden hin - immer unter der Erde! Ich denke, sie lassen's in Zukunft bleiben, auch wenn sie wissen, daß niemand daheim ist. So einen Heiligen Abend erlebt man einmal, aber nicht wieder!"

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 234 - 243.