Der Baschgler.

Zu der großen Bauernhochzeit war auch der Bildhauer Rudolf Eder, ein Kind des Dorfes, aus der Stadt gekommen. Man war mitten im Mahle, der Brautführer hatte den ersten Teil seiner bei Adam und Eva beginnenden Rede bereits fertig — er war bis zu den Unrähnen des Brautpaares gekommen - und nun trat wieder eine größere Pause ein, welche der Bewältigung der Speisen und Getränke, dem Tanze und dem „Ueber die Gass' gehen" galt.

Der Bildhauer Nudolf Eder sitzt neben seinem weitschichtigen Verwandten von Adam und Eva her, dem Dorfnachtwächter Hieronymus, kurzweg Ronimus oder pleno titulo: 's Unterefranzelesjörgelesronimus genannt, in eifrigem Gespräch. Der früh-gealterte Mann ist in vollem Diskurs, obwohl er fast keinen Zahn mehr im Munde hat und die Lippen bereits sich bedenklich nach einwärts wölben, denn er erzählt von seinem Bübl, dem Elias, den sie in der Schule den „Großkopfeten" heißen. In dem großen Kopf ist aber auch allerhand drein, voraus eine große Menagerie: Löwen, Bären, Kühe und Schafe. Nachdem eine ganze Krippen, nachdem Regimenter Soldaten und ein Schuppe! von Heiligen.

Der Elias tut nämlich soviel gern baschgeln.

So hat er mit seinem Taschenveitel die heiligen drei Könige mit einer entsprechenden Unzahl von Kameelen [sic] geschnitzt, dann einen General, ein Bauernmandel, das Holz hacken kann, und's Hauptkunststück, eine Muttergottes mit'n Spinnradl — man muß denken, das Radl dreht sich und mit dem Fuß kann die Muttergottes auf und abtreten!

Der Künstler hört eifrig zu, weiß er doch gut, wie viel bildnerisches Talent in den Tiroler Burschen oft vorhanden ist, war er ja doch selbst aus dem Dorfe hervorgegangen, von einem Marterlmaler entdeckt und in die Stadt gebracht worden.

„So will ich halt einmal mit Dir geh'n, Ronimus, und den Buben und sein Gebaschgel anschauen. Hat der Elias Talent, so könnt' man ihn ja mitnehmen in die Stadt; ich brauch ohnedies einen Lehrbuben."

Auf diese Worte des Bildhauers hin bringt der Ronimus vor Staunen und Freude das zahnlose Maul eine Weile nicht mehr zu, dann dreht er mit seiner furchigen, zitterigen Hand sein Weinglasel um und um, wiederholt dann diese Prozedur öfters und sagt mehrmals hintereinander: „Dös war decht z'viel: dös war decht z'viel."

Aus seinem Staunen wird er plötzlich aufgeschreckt, als der Besenbinderhannes, der heute Brautführer ist, in's Zimmer schreit: „Uebers Gassel geh'n" und dazu seinen mit Bändern und Blumen geschmückten Stab schwingt.

***

Am nächsten Tage stand der Bildhauer in der Stube, in welcher sich der Ronimus und seine ehrsame Gattin Philomena befanden. Der Aufgang zum Atelier - so konnte man die Kraxelstellen und Schliefwinkel, welche zur Arbeitsstelle des großkopfeten Elias führten, füglich nicht nennen — war nicht sehr einladend. Der kleine Schnitzler mußte nämlich für seine Baschgeleien bereits seinen eigenen Raum haben!

Daran aber war keine Künstlerprätensiosität, sondern vielmehr der Segen Gottes schuld.

Der Segen Gottes? Ja, wie denn?

Der Nachtwächter Ronimus und die Philomena waren nämlich ein blutarmes Ehepaar und bei einem solchen stellt sich der Segen Gottes immer in beängstigender Weise ein. So waren denn im Hause acht solche sichtbarliche Beweise vom Gottessegen in den Größenabteilungen von Orgelpfeifen zu finden: Michael, Gabriel, Raphael, Kreszentia, Balbina, Ingenuin, Franziska — also sieben von den acht, denn Elias war im Atelier — bevölkerten die Stube und nützten mit Ausnahme der beiden letztgenannten, die als Wiegenzwillinge noch mit ihrem engen Raume zufrieden waren, auch jeden Winkel derselben aus.

Und warum saß der Elias einige Etagen höher in seinem lichten Atelier bei der Arbeit?

Das war, weil sein Schnitzmesser eine ständige Gefahr für den ronimusschen Haussegen gebildet hätte.

Um zum Elias und zu seinen im Estrich aufbewahrten, bereits vollendeten Schöpfungen zu gelangen, mußte man im Hausflur an der Holzlege und dem Hackstock vorbeigehen, dann über eine krachende Stiege in die obere Kammer steigen. Hier meinte nun der Alte, der Bub sollte seine Sachen

heruntertragen, aber der Bildhauer ließ das nicht zu, sondern kraxelte über die Leiter, schloff durch eine Falltüre und sah im Bodenräume die ersten Spuren der Künstleranwesenheit, Hier standen — spannenlang in Holz geschnitzt — die heiligen drei Könige, die bereits erwähnte spinnende Muttergottes, bethlehemitische Hirten, die den Tiroler Goasbub'n auf ein Haar ähnlich sahen, österreichische Soldaten, Kameele, ein Hoherpriester, Haustiere und andere Tiere, deren kaum wiedererkenntliches Urbild wohl irgendwo in den Fetzen einer alten Naturgeschichte zu finden gewesen wäre, in bunter Reihe umher. Der Estrich war übrigens so finster, daß man stets Gefahr lief, mit dem Kopfe die Bekanntschaft eines wie alle Körper undurchdringlichen Querbalkens am Giebel zu machen. Dieser Raum konnte also nicht das Atelier des jungen Dorfkünstlers sein.

O, der hatte schon gemerkt, daß Licht bei der Kunst die Hauptsache sei und sich ein plein air-Atelier erwählt, dessen Baumeister zum großen Teil der Herrgott selber war.

Man mußte noch durch eine Dachlucke schliefen und sich auf das Schindeldach hinausschwingen, dann traf man den Künstler, der auf dem Dache saß und einen österreichischen General, welcher den Arm mit dem Säbel bewegen konnte, mit seinem Schnitzmesser fertigte.

Also war's im Atelier des „Großkopfeten". Der Bildhauer besichtigte nun die Schnitzereien des Burschen, der ganz dertattert war. Er entdeckte an ihnen trotz der Unbehilflichteit ihrer Ausführung jene merkwürdige Anlage zur Plastik, welche sich in manchen Tiroler Tälern so häufig findet. Er entdeckte allerdings noch etwas, und das war die mangelnde Schulbildung; aber das hätte er vorauswissen können, daß ein Tiroler Lehrer mit dreißig Gulden jährlich und zwölf Gulden Organistengeld mehr zu tun hatte, als immer an den Brüsten der Weisheit zu saugen, Wenn nicht der Pfarrer mit seinem etwa noch geretteten Wissen bei den Buben, die für's Seminar bestimmt waren, eingriff, oder die Burschen nicht auf Arbeit in die Fremde zogen, so konnte man bezüglich Lesen, Schreiben und Rechnen keine großen Ansprüche machen.

Aber Talent hatte Elias entschieden, deshalb überlegte der Bildhauer nicht allzu lange, ob er den Haussegen des ronimusschen Ehepaares nicht um ein Achtel verringern solle, sondern sagte einfach:

„Der Elias geht mit mir in die Stadt."

Die erste Folge dieses Ausspruches, welcher in der bevölkerten Stube auf der Ofenbank geschah, waren Tränen verschiedener Art.

Beim alten Ronimus Tränen der Freude, bei der Philomena Tränen des Abschieds, beim Elias Tränen der Angst, bei den fünf hosen- und röckleinbekleideten Sprößlingen des Ehepaares undefinierbare Kindertränen, in welchen alle Gefühle des Lebens noch in inniger Mischung enthalten sind.

„Na, dös ischt z'viel, dös können mir nit annehmen!" —

„Elias, Du geascht fort von mir?"

„Na, ischt dös a Glück, dös verdient der Bua ja gar nit."

Also hallte es durcheinander, bis die beiden Zwillinge aufmerksam wurden und sich an der Familientragödie mit lebhaftem Mitgefühl durch Schreien und Strampfen gebürend beteiligten.

Nun aber brachte die Philomena in dunkelgrünen Pletschen auf einem Teller frischen, goldgelben Butter, an dem noch helle Wasserperlen glitzten, daher und nahm aus einem in die Wand eingelassenen Kasten hartes, sprödes Gerstenbrot, wie es in der Gegend gebräuchlich ist, hervor. Und endlich erschien auch eine Flasche, welche einen Enzeler enthielt, wie ihn zehn Branntweinbrenner in der Stadt nicht zusammenbringen.

Auf diese Weise zwängte sich ein neues Schicksal durch die enge Türe des Ronimusschen Hauses.

***

Einige Tage später ging der kleine Auswanderer an der Seite des Bildhauers beim „blutigen Hergott" am „Jagertod" vorbei. Der stand an einer breiten Steinhalde, welche den Bach aus seinem Bett getrieben und den Wald vernichtet hatte. Im Winter war hier eine lawinengefährliche Stelle — den Jäger Peregrin hatte die Lahne verschüttet, darum heißt's beim „Jagertod" — und auch zur Hochwetterzeit donnerte manche Mure hier zu Tal.

Es war ein schreckliches Kreuzbild mit einem dem bizarren Volksdenken eng angepaßten, vollständig abgemagerten Heiland, dessen Leib ganze Wülste geronnenen Blutes überzogen. In lappenförmigen Tropfen hing das durch die Verwitterung fast schwarz gefärbte Blut vom weißbläulich gehaltenen Leibe.

Dieses Kreuz hielt man im Volke für ein großes Kunstwerk und auch für wundertätig, da es, seit es stand, den Lawinen Stillstand geboten habe. Das Wunder bestand aber hauptsächlich darin, daß die Mure weitum nichts mehr zu zerstören vorfand, weil schon alles zerstört war. Dem Andenken des Jägers Peregrin war das Kreuz errichtet, von ihm sprach der Vers:

Wanderer, steh' still allhier
Auf diesem Trauerort,
Ein Vaterunser bete mir.
Erst dann magst wieder fort.
Auch Du besitzest keinen Brief,
Wenn Deine Zeit ist aus,
Vielleicht kommst Du noch heut zu mir
Hinein ins Totenhaus.

Der Elias sah das schreckliche Jammerbild. Es reizte seine Phantasie und die großen Augen waren fragend und angstvoll halb auf das blutrünstige Kruzifix, halb auf den Künstler gerichtet. So mag ein junger Künstler vor dem Moses des Michelangelo stehen, erdrückt von der Kraft des steingewordenen Willens!.

Das war doch sicher ein großer Meister, der dieses Christusbild geschnitzt, dachte sich der Elias, von seinem Ruhm ist Wohl die ganze Welt voll. O, wenn er es nur auch einmal so weit bringen könnte! Doch das war wohl eine gar törichte Hoffnung!

Aber wie erstaunte der Knabe, als der Künstler nicht einmal den Namen des großen Meisters wußte!

Der Bildhauer mußte ein Lächeln zurückdrängen, da ihn Elias fragte, ob vielleicht auch er einmal — natürlich nach langer, langer Zeit — ein solches Wunderbild zusammenbringen könne! —

Nur einem Kinde nicht den Hohn lehren; der stellt sich schon früh genug von selbst ein. Deshalb sprach der Künstler ernst: „Das haben Menschenhände gemacht!"

Der Knabe begriff wohl nicht, was in diesen schlichten Worten alles enthalten war. Er ahnte nicht, daß das der Leitspruch für jeden tüchtigen Menschen sein müsse, das große, sieghafte, befreiende Evangelium: Hilf Dir selbst!

Und mit diesem Leitspruch zog der kleine Knabe hinaus in das große Leben.

Quelle: Anton Renk, Kraut und Ruebn. Kleine Geschichten aus Tirol. Linz 1904, S. 137 - 146
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Helene Wallner, September 2005.
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