Über die Dreischwestern nach Gaflei
(Eine harmlose Gratwanderung.)

Wie schon oft, so kam es auch diesmal. Um 10 Uhr wollte ich mich in das Bett begeben, um morgens 5 Uhr auf den Beinen zu sein, und um die Geisterstunde saßen wir noch eifrig disputierend im gemütlichen "Schäfle" zu Feldkirch. Die Stimmen waren nämlich geteilt. Die einen rieten mir, die Partie über den Dreischwesternberg von Schaan, beziehungsweise von Gaflei aus zu machen und über das Hochälpele und Amerlügen wieder nach Feldkirch abzusteigen, die anderen erklärten den Aufstieg von letztgenanntem Orte für zweckmäßiger. Wieder andere, darunter der weg- und bergkundige Herr Arnold, empfahlen, den neu angelegten direkten Weg von der "Letze" zu nehmen. Derselbe führe beständig durch Wald in 2 Stunden im Zickzack zum Vorderälpele und biete zwar wenig Abwechslung, aber dafür steten Schatten, der in Anbetracht des wahrscheinlich verspäteten Aufbruches nur sehr zustatten kommen würde.

Die Folge dieser verschiedenen Ratschläge war, daß mich der Morgen des 18. September 1900 erst um sage 8 Uhr illaufwärts durch die Felsenau wandern sah. Ich hatte nämlich trotz der vorgerückten Zeit und der gestrigen Mitteilungen den gewöhnlichen Weg über das freundliche Maria-Ebne und Amerlügen gewählt, erstlich weil diese Route mir abwechslungsreicher schien, und dann vorzüglich deshalb, weil mir daran gelegen war, im letztgenannten Weiler zu erfahren, ob sich das Vieh noch auf der Alpe befinde; denn die Einrichtung der dortigen Sennhütte interessierte mich sehr. Nachdem die Antwort bejahend ausgefallen, kaufte ich mir im schön gelegenen Gasthause "Schönblick" etwas Brot und Schinken und nahm mir einen Buben als Begleiter mit, der, obwohl erst 11 Jahre alt, bereits dreimal auf dem Dreischwesternberg gewesen und, wie ich gleich bemerkte, hinsichtlich der Auskünfte gut beschlagen war. Man möchte kaum glauben, welcher Fond topographischen, sprachlichen und sittengeschichtlichen Stoffes sich aus so einem kleinen Knirps gesprächsweise herauswickeln läßt.

Zehn Minuten ober dem genannten Gasthause kommt man zu einem stattlichen Gehöfte. "Das sei der rich' Mock", meinte der Junge. Er bediente sich bei seinen Äußerungen fast immer der verbindenden Art, einer beim Landvolk häufig gebrauchten Ausdrucksweise, welche die Sprachgelehrten mit "subjektivem Optativ" bezeichnen. Unweit davon wies mir der Junge den Platz, wo die Leute im Spätherbste das von der Alpe heimkehrende Vieh erwarten. Da sind dann die Wiesenhänge mit harrendem Volke besetzt; sobald man der Tiere ansichtig wird, läuft ihnen alles freudig entgegen. Daran vorbei führt geradeaus der schattige "Stadtweg" über das "Plätzle" zur Sarüjaalpe oder dem Hinterälpele.

Da ich auch die Amerlugalpe oder das Vorderälpele besuchen wollte, so bogen wir rechts vom "reichen Mock" ab. Weiber, die Dünger anlegten, sagten uns, in einer guten halben Stunde steige man bequem hinauf.

Und so war es auch.

Um 11 Uhr 30 standen wir am Zaun, hinter dem sich die Alpe ausdehnt. Drei geistliche Herren, welche auf der kurzhalmigen Weide ihre wohlige Siesta hielten, waren unsere erste Begegnung. Wie erquickend umwehte uns die frische Alpenluft und milderte den warmen Sonnenstrahl. Schon aus dem Vorderälpele ist die Aussicht sehr schön, wenn sie auch nur einen Teil des inneren Walgaus und das breite Rheinthal [Rheintal] mit einem Stück Bodensee umspannt. Vieh war keines zu sehen. Wir stiegen nun die Grasböden hinauf zu den Hütten. Es sind ihrer fünf; doch waren sie geschlossen auch die eigentliche "Taja". Doch da wußte mein kleiner Führer bald Rat. Im Nu hatte er den geheimen Mechanismus entdeckt und die Sennhütte geöffnet, so daß ich mir vom Inneren eine Skizze machen konnte. Sie gleicht ganz der auf der Sarüjaalpe, von der gleich ausführlich die Rede sein wird.

Der Weg zu diesem 150 m höher gelegenen Weideplatze ist teilweise schattig und führt unter dem Roja-, richtiger Sarüjaberg in 1 St. dahin. Linkerhand erblickt man die jenseitige Flanke des Saminathales [Saminatales] mit den gezackten Kämmen des Gallinakopfes, Goppaschrofens und Gurtisspitzes und den eingebetteten Almen Gafadura und Bazora. Mein barfüßiger Junge wurde nicht müde, mich auf Verschiedenes, was ihn und mich interessierte, aufmerksam zu machen. Er kannte jede Bergspitze, jede Alpe und wußte, wie viel "Hüttenen" jede habe.

Am meisten schienen ihm die "Schwämme" am Herzen zu liegen. Unter "Schwamm" versteht man hierorts eine ausgereutete Waldstrecke, anderswo Schwende, Brand, Schlag oder Maiß genannt. Diese "Schwämme" bilden aber bekanntlich den Hauptfundort für saftige Erdbeeren, Himbeeren und Brombeeren, daher das Interesse des Jungen. So erzählte er mir unter anderem eine traurige Geschichte, wie ihm einmal ein böser Mann ein ganzes "Kessi" voll Erdbeeren, die er mit seinem Kameraden mühevoll gesammelt, weggenommen habe. Die beiden Jungen dürften wohl wahrscheinlich unbefugterweise "beeren" gegangen fein. Denn die Zeiten sind vorbei, da jeder, wo er wollte, Beeren sammeln durfte und man in Feldkirch für das "Krätle" (geflochtenes Körbchen) Erdbeeren oder Himbeeren einen "alten Krüzer" zahlte. Jetzt kostet das "Krätle" Brombeeren 15 - 20 kr., Erdbeeren 25 kr. und Himbeeren 40 kr., und dem entsprechend das "Kessi" (Kessel) 1 fl., 1 fl. 25 kr. und 2 fl. Der oder die Besitzer solcher "Schwämme" ziehen also aus dem Beerenertrag eine ganz erkleckliche Summe. So beträgt, wenn ich recht unterrichtet bin, der Gewinn in der Gemeinde Frastanz allein jährlich 200 - 300 fl., nach anderer Mitteilung sogar gegen 1000 fl.

Unter solch anregenden Gesprächen kamen wir am Spitzenegg und Langenegg, am Waldegg und Brandegg vorbei allmählich zur Höhe, von der wir in geringer Entfernung die Hütten der Sarüjaalpe liegen sahen. Von Vieh erblickten wir auch hier nichts; es weidete weiter rückwärts zerstreut auf den Grasflächen. Punkt 12 Uhr betraten wir die gastliche Sennhütte. Der Senn, ein hübscher Mann, gebürtig aus Alberschwende, war gerade mit Bereitung des Mittagsmahles beschäftigt. Außer ihm fanden wir noch den Zusenn und ein paar Hirten in der Hütte. Wir setzten uns gleich an den Tisch links vom Eingange und baten um Milch. Sie wurde uns bereitwillig gewährt, und bald stand vor jedem eine zinnerne "Milchmeß" mit dem kühlenden Getränk. Brot hatten wir selbst bei uns. Da ich noch zu erhitzt war, so benützte ich die Zeit, um die Sennhütte und ihre Einrichtung einer eingehenden Besichtigung zu unterziehen.

Es ist ein Mauerbau von 15 m Länge und 8 m Breite, mit Schindeln gedeckt (Nageldach); Eingang und Ausgang liegen einander gegenüber. Der Boden ist festgestampft. Gleich der in dem Vorderälpele wird sie der Länge nach durch eine Wand in zwei Hälften geteilt; die eine umfaßt die eigentliche Küche, die hier auch zugleich Stube ist, die andere die Vorratskammern für die "Molke", d. i. Milch und speziell Butter und Käse. In der Küche nimmt an der Wand zwischen den beiden Fenstern der mächtige "Kessi-Ofa" (1) mit dem eingelassenen Käskessel (2) den Hauptplatz ein. Daneben steht der Herd (3) und knapp vor diesem ein riesiges, radähnliches "Butterfaß" (4), das mit eiserner Kurbel gedreht wird. Damit ist der Raum zwischen beiden Fenstern ausgefüllt. In der Ecke zwischen dem Fenster und der Eingangstür steht der viereckige Eßtisch (5) und dahinter Bänke an der Wand. Den kleinen Raum, der noch zwischen Bank und Tür bleibt, nimmt der "Surakübel" (6) für den Zieger ein. An der entsprechenden gegenüberliegenden Wand neben dem Ausgange stehen auf Gestellen (7) die "Milchmäß", 20 Liter fassende Zinngefäße, ferner kugelartige Laibe sauern Käses und über diesen die dazugehörigen Formen, nämlich die durchlöcherten "Käsnäpfe." An der nordöstlichen Langwand, dem Herd gegenüber zwischen den beiden Türen, die in die Vorratskammern führen, steht die "Schumbank" (8) zum Abschäumen der Milch und daneben auf einem Gestelle der "Milchsiicher" (9) zum Messen der Milch. Über der "Schumbank" hängt an der Wand die "Milchtafel" (10) mit Rubriken. Hier wird jeden Tag das Milcherträgnis jeder Kuh mit Kreide angeschrieben und dann sofort in das "Buch" eingetragen. Darnach bemißt sich bei der Verrechnung und Verteilung des Alpennutzens (Molkenthoalig), die am letzten Tage vorgenommen wird, das Betreffnis für jeden Interessenten. Wollen wir noch die Leiter (11) erwähnen, welche an der genannten Wand in das Unterdach hinauf zu den Streuliegerstätten des Personals führt, und die Salztasche, die an der Wand hängt, so wären wir mit der Einrichtung der Sennküche als der größeren Abteilung der Hütte so ziemlich fertig und brauchen nur noch einen raschen Blick in die kleinere Hälfte zu werfen, welche die Vorratskammern umfaßt.

Sennhütte, Ludwig von Hörmann, www.SAGEN.at

Sennhütte in Vorarlberg
Ludwig von Hörmann

Sie besteht aus zwei Gelassen mit je einer Tür. Da sie etwas tiefer liegen, so führen einige Stufen hinab. In dem vorderen dieser Räume, dem "Milchkeer" (Milchkeller) (13), stehen in langen Zeilen übereinander geschichtet die großen hölzernen Brenten, bis zum Rande mit rahmiger Milch gefüllt, im hinteren, dem "Käskeer" (12), die goldgelben Butterklöße und mächtigen Käslaibe. Ein appetitlicher Anblick! Da sie
fast gegen Norden liegen und nur durch ein kleines Fenster Licht erhalten, ist es hier dem Zweck entsprechend kühl und dämmerig. Man sieht aus alledem, daß wir es hier noch mit einer Sennhütte älteren Schlages zu tun haben. Als einzige Neuerung kann man den eigenen Kesselofen mit dem in das "Kessiloch" eingelassenen Kupferkessel betrachten, während letzterer sonst an einem drehbaren, galgenähnlichen Gestelle über dem offenen Herd hängt. Es ist auch kein Kamin angebracht, sondern der Rauch zieht durch ein Loch im Dache in das Freie. Schlafraum und Stube fehlen ebenfalls. Das Abrahmen der Milch geschieht nicht mittels der so bequemen und rasch arbeitenden Zentrifuge, sondern noch nach der älteren Art mit dem Schaummesser und durch Abblasen.

Und nun zu meinem Milchnapfe.

Obwohl er 1/2 Liter faßte, so trank ich ihn doch in langem durstigen Zuge aus und erbat mir dann noch einen, der mir nicht minder mundete. Nachdem ich den freundlichen Senner für mich und den Jungen entsprechend entlohnt hatte, machten wir uns wieder auf die Beine zum Weitermarsch.

Es war bereits 12 Uhr 30, als wir die Hütte verließen. Vor uns baute sich über der grünen Wiesenfläche der gewaltige Dolomitstock der "Dreischwestern" auf mit der dreifach gezackten Krone. Wenn man diese drei unwirtlichen und finster herabdrohenden Schrofen sieht, so möchte man kaum glauben, daß es möglich wäre, da hinaufzukommen. Die geschäftige Phantasie des Volkes hat aus ihnen die bekannte Sage der "Drei Schwestern von Frastanz" geschaffen. Leider vergaß ich in der Hütte, mir dieselbe erzählen zu lassen, ich muß mich daher an die Wiedergabe meines "Piccolo" halten. Es seien einmal drei Frastanzer Mädeln sonntags früh statt in die Kirche da herauf "in die Beeren" gegangen, jedes mit seinem "Krätle" am Arm. Dazu hätten sie gescherzt und gelacht, als ob Werktag und nicht Feiertag wäre, ja sogar, als es zur Wandlung läutete, hätten sie nicht zu schwätzen und lachen aufgehört. Auf einmal habe es über ihnen gesaust und "ein Luft" sei gekommen und habe sie in die Höhe getragen, daß sie nicht mehr schnaufen konnten. Als am anderen Tage die Mäher auf die Wiese gekommen seien, hätten sie nur mehr die drei "Krätle" mit Erdbeeren gefunden, die Mädeln seien aber in "garriga Schröfa" verwandelt auf dem Berge gestanden. Mit dieser Erzählung stimmt die Sage, wie sie Vonbun ursprünglich in seiner meisterhaften Art poetisch behandelt hat. In seiner späteren Sagensammlung*) läßt er das Venedigermännlein, das am "Garsellaegg" sein Goldwässerlein hatte, zu den drei pflichtvergessenen Mädchen kommen und sie fragen, was sie denn täten. Als nun diese verlegen antworteten: "O nüt" (nichts), habe es gesagt: "So sollt ihr auch nichts anderes werden als drei Schrofen, daß ich mein Goldwässerlein darunter verstecken kann". Genanntes Garsellaegg liegt an unserem Wege, und wir werden bald dazu kommen. Also vorwärts!

*) Vgl. die treffliche 2. verm. Ausgabe der Vonbun'schen "Sagen Vorarlbergs" von Herm. Sander. Innsbruck. Wagner 1889. S. 136.

Ein Stück oberhalb der Hütten stehen in einer Zeile drei Brunnen, die ein köstliches Wasser spenden. Von hier zieht sich der Weg mäßig ansteigend rechts hinauf, um dann links gegen den sogenannten "Weißen Schrofen" zu schwenken. Rechts und links weidete die Rückseite des Rojaberges hinan friedlich das Alpenvieh. Plötzlich stieß mein Junge einen hellen Freudenschrei aus: "Unsere Kuh, unsere Kuh!" Zugleich sprang er in Sätzen das Mahd hinab auf eine Kuh zu, die weit unten weidete. Er hatte sein Haustier auf 60 - 70 m erkannt und liebkoste es nun mit den zärtlichsten Schmeichelnamen. Leider schien bei der vierbeinigen Hausgenossin die Freßbegier jede andere Regung erstickt zu haben, denn sie starrte ihn einen Moment teilnahmslos an und weidete dann ruhig weiter, welche Unart ihr von Seite des Jungen eine Flut von Ehrentiteln eintrug.

Über den obgenannten "Weißen Schrofen", der sich auch auf den Karten verzeichnet findet, übrigens nur ein unbedeutender, aus dem Alpenboden aufragender Felsblock ist, kommt man zum erwähnten "Garsellaegg", einem Felsenvorsprung, über den der Pfad führt. Von ihm aus genießt man eine prachtvolle Aussicht über die Alpe und über die ganze Landschaft. Besonders schön ist der Blick gegen Süden auf die rückwärtige Partie der "Dreischwestern". Wir umgehen nämlich den mächtigen Sockel des Dreischwesternberges und steigen knapp an den herabstarrenden Wänden und zerfressenen Köfeln hin, die sich in den bizarrsten Formen rechts vom schmalen Pfade auftürmen. Einer dieser mächtigen Kolosse heißt der "Pfaffenkopf", weil er der Gestalt eines Geistlichen mit dem Barett ähnelt. Von der Tiefe tönte melodisches Glockengeläute herauf, vielleicht kam es von der Gaudenzeralpe.

Nach fast einstündigem Marsche bogen wir westlich in ein grünes Tälchen ab, das sich mit magerem Grasboden immer steiler ansteigend gegen den Grat zieht. Es ist die Frastanzer Garsellaalpe. Neben der verlassenen Sennhütte lag am Wege der umgestürzte Träger einer Orientierungstafel. Von der Höhe starren drei gewaltige Schrofen herab, die ich beim ersten Anblick für die Dreischwestern hielt, und die auch auf Ansichtskarten irrigerweise als solche ausgegeben werden. Wir stiegen nun die Mulde hinan, bis wir zu einem neuen Wegzeiger kamen, dessen rechter Arm zum Dreischwesternberg, der andere geradeaus zum Garsellakopf wies. Dieser hölzerne Ratgeber ist auch sehr notwendig, denn hätte ich mich auf die Generalstabskarte verlassen, so wäre ich statt zu den Dreischwestern auf den mit diesem Namen bezeichneten Garsellakopf gekommen.*) Nun, mein Junge hatte Wegzeiger und Karte überflüssig gemacht, indem er mit den Worten: "Da müeße mer uffi" auf ein zerrissenes Felsgebilde wies, das gerade nördlich von unserem Standpunkt herabblickte.

*) Die rektifizierte Generalstabskarte vom Jahre 1898 läßt sonderbarer Weise alle die dominierenden Spitzen dieses Grates: Dreischwestern (2097 m), Garsellakopf (2107 m), Kuhgratspitze (2124 m) unbenannt und setzt nur die Höhenziffern der zwei letztgenannten an, ja läßt selbst das in früheren Auflagen noch vorkommende Garselleneck fort, bringt hingegen die Benennung der ganz unbedeutenden Erhebung "Weißer Schroffen". Man darf allerdings nicht vergessen, daß der militärische Gesichtspunkt ein anderer ist als der touristische.

Ein guter, von der Alpenvereinssektion Vorarlberg angelegter Pfad leitet durch die Zundern allmählich aufwärts, bis Geröll und nacktes Gestein die letzte Staude verdrängt haben und man vor den Felswänden steht. Diesen halbstündigen Aufstieg kann jeder, auch der ungeübteste Tourist, machen. Er trägt ihn gefahrlos bis hart an das letzte Stockwerk des Dreischwesternberges und gewährt ihm Einblick in alle Schauer dieser chaotischen Bergwelt. Gleich trotzigen Titanen stellen sich die grotesk geformten, verwitterten Steinkolosse uns entgegen, daneben gähnen turmhohe Schluchten und starren mächtige Dolomitbasteien. Von diesem "Eck" nun führt dann ein fast ebener Weg wieder zurück zum Garsellasattel, wo der Aufstieg zum Garsellakopf beginnt. Ich möchte daher den linken Arm des Wegzeigers, der zur letzteren Kuppe weist, lieber wegnehmen, weil er jene, die mit Ausschluß der Dreischwestern die Gratwanderung nach Gaflei machen wollen, verleitet, über die ziemlich steile Halde zum Sattel hinauf zu steigen, während er aus dem Dreischwesternwege denselben ohne Anstrengung erreicht.

Bei dieser Abzweigung waren wir den Dreischwestern schon ziemlich hart an den Leib gerückt. Man steigt in einer leichten Viertelstunde auf den höchsten der drei Schrofen. Der Weg ist zwar etwas steil, aber für einen schwindelfreien Bergsteiger nicht bedenklich. Ausrutschen darf man freilich nicht, sonst geht es schief, besonders an der Nordwestseite, wo die Wände senkrecht abfallen. Übrigens sind an gefährlichen Stellen Drahtseile gespannt. Bei der feierlichen Eröffnung des Dreischwesternweges am 17. Juli 1898, der 800 - 900 Personen beiwohnten, bestieg auch eine ziemliche Anzahl Damen die Dreischwestern, wie ich aus einer gelungenen photographischen Momentaufnahme des Herrn Galanteriewarenhändlers K. Moosmann in Feldkirch ersehe. Mein Junge war wie eine Ziege vorangeklettert und meldete sein Erscheinen auf dem ersten Kopfe mit einem hellen Juhzer. Ich ließ mir Zeit, umso mehr, als mein schwaches Gesicht mir behutsames Emporsteigen vorschrieb.

Was nun die Rundschau von diesem westlichsten Eckpfeiler des Rätikon anbelangt, so habe ich bezüglich "Aussicht" überhaupt meine eigenen ketzerischen Anschauungen. Nicht so sehr die Weite des Ausblickes bestimmt bei mir den Wert derselben, sondern die ästhetische Schönheit, sei es nun, daß sie sich dem Auge als Gesamtbild gibt oder in landschaftlichen Einzelbildern ausprägt. Mir sagte einmal ein Besteiger des Großglockner, die Aussicht habe ihm nicht den erwarteten Eindruck gemacht; es sei ihm vorgekommen, als schaue er vom hohen Hause einer Großstadt über ein Meer von Dachgiebeln und Dachreihen hin, es hätte der Eindruck in die Gassen gefehlt. Ich war über dieses Urteil zuerst erstaunt, und doch ist etwas Wahres daran. Die Menge der Berggipfel und Bergketten ist nicht das Ausschlaggebende, sondern die schöne Formation und Gliederung derselben und vor allem der Ausblick in die "Gassen", das heißt in die Täler mit dem belebenden Beiwerk menschlicher Kultur.

Das ist es aber gerade, was der Aussicht von den Dreischwestern einen solchen Reiz verleiht. Welche Fülle landschaftlicher Voll- und Einzelbilder empfängt der Blick auf seiner Wanderung von der schattigen Waldschlucht des Saminathales [Saminatales] zum sonnenhellen inneren Walgau und von da in das Rheinthal [Rheintal] bis zur verdämmernden Fläche des Bodensees! Wie schön ist der Einblick in das offene Walserthal [Walsertal], auf das dörferbesäte Mittelgebirge von Düns und Schnifis und auf die luftige Höhe von Übersaxen. Lieblich schaut es sich auch herunter auf das zwischen die beiden Illklammen hinein gebettete Feldkirch, auf die grünen Höhen von Fraxern und Viktorsberg und jenseits des Rheins auf die sauberen Ortschaften des Appenzellerlandes. Und über und um all diese Talherrlichkeit schlingt sich als schön geschwungene Umrahmung der Kranz bald rauhzackiger, bald kuppenförmiger Berge, darunter eine erkleckliche Anzahl "alpiner Majestäten und ihr Gefolge". Da winken vom fernen Süden und Südosten der aussichtsreiche Naafkopf, die schimmernde Scesaplana und edle Zimbaspitze, weiter gegen Osten der Kristallschild des Sporergletschers, die Sulzfluh und der Eishermelin des Kaltenberges. Aus Nordwesten grüßen uns aus dem Walserthale [Walsertale] und Tannberg der Zitterklapfen und das zackige Rothhorn und dahinter die Riesenwächter des Alpenjuwels von Schröden: Künzelspitze, Widderstein und Mohnenfluh. Auch die Nordseite stellt ihre Vertreter; da ragt die Pyramide der Mittagsspitze hervor und der wohlbekannte Rücken des Hohen-Freschen mit seiner zahmeren Nachbarin, der Hohen-Kugel. Die Aussicht auf die westlich liegenden Schweizergebirge verdeckt zum Teile der Garsellakopf, dem wir gleich unseren Besuch abstatten werden.

Mein Junge schien für die Schönheit dieses Panoramas wenig Sinn zu haben, ihn interessierte mehr der Bahnzug, der tief unter uns Frastanz zufuhr, und dessen Rollen deutlich zu vernehmen war, sowie das Flattern der Fähnlein, die auf den drei Schröfen aufgesteckt waren. Auf einmal sagte er, es schwindle ihn. Obwohl mir dies von einem Geißbuben so fester Qualität etwas sonderbar vorkam und ich diesen Anfall mehr auf das Verlangen, bald nach Hause zu kommen, zurückführte, so machten wir uns doch auf den Abstieg. In 5 Min. waren wir bei der gewissen Wegscheide. Hier entlohnte ich den wackeren Jungen und ließ ihn in freudigen Sprüngen über die Garsellaalpe heimwärts eilen, ich aber ging den ebenen Weg hinüber zum Garsellasattel.

Auf seiner Schneide ragt ein viereckiger Steinblock empor. Rechts fällt der Berg jäh ab, vor sich hat man den felsigen Garsellakopf, über den man hinüber muß, wenn man nach Gaflei kommen will. Während ich mir das unwirtliche Hemmnis, das anfänglich durchaus keinen vertrauenswürdigen Eindruck macht, nachdenklich betrachtete, kam von der Garsellaalpe den steilen direkten Weg ein mit Bergstock und Rucksack ausgerüsteter junger Mann heraufgestiegen. Da er auch nach Gastet strebte, so machte ich ihm den Vorschlag, miteinander zu gehen. Es war ein Schüler der Innsbrucker Handelsakademie, der durch sein Wissen und Benehmen der Anstalt alle Ehre machte.

Mit dem Garsellakopf beginnt die eigentliche Gratwanderung. Auf wohlüberlegten Zickzackpfaden, die an den gefährlichen Stellen durch Drahtseile geschützt und durch Holztreppen gangbarer gemacht sind, steigt man zwischen und über Felsen in verhältnismäßig kurzer Zeit auf die Kuppe. Ein quadratischer Steinpfeiler krönt die Höhe. Die Aussicht gleicht jener von den Dreischwestern, nur ist sie gegen Südwesten noch weiter. Da wir auf dem knapp vor uns liegenden Kuhgratspitz länger rasten wollten, so hielten wir uns hier nur kurz auf. Das Herabsteigen ist beschwerlicher als der Aufstieg, und die Anbringung von noch einigen Drahtseilen würde jedenfalls den wenn auch gefahrlosen Weg besonders für nicht ganz Schwindelfreie bequemer machen.*) Man ist übrigens bald unten. Nun hatten wir noch den genannten Kuhgratspitz zu "machen", dessen Bewältigung ganz mühelos ist, denn man steigt auf völlig sicheren Pfaden allmählich hinauf. Hier setzten wir uns gemütlich nieder und rasteten. Die Weinflasche und mitgenommenes Brot nebst Früchten wurde aus Tasche und Schnerfer geholt und mit Appetit gemeinschaftlich eine frugale, aber doch köstliche Mahlzeit gehalten. Der Mangel jeglichen Jochwindes, der sonst den Aufenthalt auf Spitzen so unerquicklich macht, der behaglich warme Sonnenschein, der uns umfloß, der entzückende Blick auf das unter uns liegende Rheinthal [Rheintal] und die herrlichen Schweizer Berge versetzten uns in die rosigste Laune. Juhzer um Juhzer sandten wir talwärts und zu einer grünen Matte, die fern im Süden hell leuchtend heraufgrüßte. Wir hielten sie anfänglich irrigerweise für die Wiese von Gaflei. Es ist aber ein tief unter diesem Orte liegendes Mahd mit einer Berghütte.

*) Wird laut eben eingelangter Mitteilung in Kürze geschehen.

Nach einhalbstündigem Ausruhen traten wir den Weitermarsch an. Der Weg bietet nicht mehr die geringste Beschwerde, sondern geht knapp am Grat und bis zum letzten Stück fast eben gegen den Gipsberg. Bei einem Gatter beginnt derselbe und mit ihm der originellste Teil der Wanderung.

Besagter Gipsberg*) fällt nämlich gegen Westen in ein grandioses steiles Tobel ab, an dessen Wänden sich der teils eingehauene, teils untermauerte Reitweg des Fürsten von Liechtenstein - daher der Name "Fürstenweg" - hinzieht. Mit einem merkwürdig schaurig-wonnigen Gefühl wandert man völlig gefahrlos durch diese Felsenwildnis. Rechterhand starrt es von Abgründen, Steinrunsen und Schluchten, aus denen in den abenteuerlichsten Formen zerrissene und zerfressene Felstürme und Felszähne aufragen, dahinter erblickt man tief unten als Gegensatz die sattgrüne Fläche des Rheinthales [Rheintales]. Und mittendurch dieses Höllentobel geht man scherzend mit der Zigarre im Munde so sicher wie auf einer Landstraße dahin, während der Blick fast magnetisch angezogen in die schaurige Tiefe fällt.

*) Der ganze Grat vom Garsellaeck über die Dreischwestern bis zur Bargella-Alpe (südl. vom Gipsberg) besteht aus Hauptdolomit ausruhend auf gipsführenden Raibler-Schichten und Arlbergkalk, welch letzterer den höhern Teil des nördl. und westl. Abhanges bildet. Am Gebirgsfuß steht Flysch au. Vgl. Jos. Vlaas: Geologischer Führer durch die Tiroler und Vorarlberger Alpen. Innsbruck. Wagner, 1901. S. 316.

Fast eine halbe Stunde zieht sich der Weg so hin, dann "tut sich ein lachend Gelände hervor", und wie ein Bild des Friedens liegen die Wiesen von Gaflei vor uns. Bald erblickt man auch das gastliche Hospiz, das sich seit ein Paar Jahren zu einer gar stattlichen Ansiedlung herausentwickelt hat. Es steht ganz nahe dem Walde am Ausgange einer großen, von weidendem Vieh belebten Wiese und bietet treffliche Unterkunft und Verpflegung. Wir nahmen in einer der beiden Veranden Platz und bestellten Essen und Trank. Das Bier - Schaaner Flaschenbier - mundete sehr gut, auch die Küche ließ nichts zu wünschen übrig. Obwohl die Jahreszeit schon vorgerückt, waren noch Sommerfrischler und Gäste genug da. Ist auch kein Wunder, da man auf einer solchen Höhe - es liegt über 1700 m - außer der guten Luft und nahrhaften Kost auch noch manches andere zu des Lebens Bequemlichkeit und Plaisir als Gratiszugabe erhält. Nachdem wir uns genugsam erquickt und die Lokalitäten, darunter einen schönen Speisesaal mit Klavier und anderen musikalischen Marterinstrumenten, besichtigt hatten, machten wir uns auf den Heimweg.

Wir hätten nun auf der bequemen Zufahrtsstraße, die über Maschesch und Rothenboden nach Vaduz und von da nach Schaan führt, gemütlich zur letztgenannten Station trollen können, wir zogen es aber vor, durch den schattigen Buchenwald direkt abzusteigen, vorzüglich deshalb auch, weil dieser Weg an der Ruine Wildschloß vorüberführt. Auch dieses mitten im Walde liegende romantische Trümmerwerk, Wohl der Rest eines einstigen Jagdschloßes, wurde einer kurzen Besichtigung unterzogen. Dann stolperten wir über Gräben und Baumaterial des neuen Elektrizitätswertes zur Landstraße, die uns in halben Stunde zum Bahnhof von Schaan führte.

Quelle: Ludwig von Hörmann, Wanderungen in Vorarlberg, 2. Auflage, Bregenz 1901, S. 114 - 129.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Mag. Veronika Gautsch, Dezember 2005.
Rechtschreibung behutsam neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.
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