Über tirolische Sage und Sagenforschung.
von Dr. Ludwig von Hörmann.

Vor mir liegt das in dritter Auflage erschienene prächtige "Sagenkränzlein aus Tirol" von Martin Meyer, dem ich einige empfehlende Worte widmen möchte. Dies gibt mir Anlaß, mich im allgemeinen über tirolische und nebenbei auch über vorarlbergische Sagenkunde und Sagenforschung kurz auszusprechen. Tirol, das "Land der Riesen und der Zwerge", weist, wie kaum ein anderes Alpenland, einen außerordentlich großen und mannigfaltigen Schatz von Sagen auf. Der Grund liegt erstlich darin, daß dieses Bergland mehrere Volkstämme: den alamannischen, bayerischen und italienisch-ladinischen beherbergt, von denen jeder bei der Besiedlung seinen Sagenvorrat ablagerte, beziehungsweise den örtlichen Verhältnissen anpaßte, nicht zu gedenken der Hinterlassenschaft teils untergegangener, teils ausgesogener Bruchteile größerer Völkerschaften, der Goten, Longobarden u. a. Müssen wir den letzteren die Verpflanzung der deutschen Heldensage auf Tirolerboden zuschreiben, deren verblaßten Spuren vom Jochgrimm, von König Laurin und seinem Rosengarten, Teile auch vom Riesen Haymon *) etc. begegnen, so haben erstere den gegenwärtigen Sagenbestand geschaffen, der sich somit in einen alamannischen, bayerischen und italienisch-ladinischen gliedert. Der alamannische beherrscht ganz Vorarlberg, das obere Oberinntal **) mit den Seitentälern Paznaun-, Stanzer-, Ötz- und Pitztal und das ganze Vinschgau, der bayerische das ganze Unterinntal mit seinen Seitentälern, ferner das Brixen-, Wipp- und Eisacktal. Ebenso das Pustertal; der italienisch-ladinische umfaßt die ihm sprachlich, zufallenden Gebiete im westlichen und östlichen Südtirol. Reste romanischer Sagenbildung haben sich auch im Oberinntal und Vinschgau erhalten.

*) Vgl. die treffliche Arbeit von Josef Seemüller "Wiltener Gründungssage" (Sonderabdruck aus der Ferdinandeums-Zeitschrift, III. Folge, 39. Heft, Innsbruck, Wagner 1895, und Ignaz v. Zingerle "Zur deutschen Heldensage" in Pfeiffers "Germania", II. S. 484 ff.

**) Sprachlich ist gegenwärtig nach den gründlichen Untersuchungen des Universitätsprofessors Dr. Josef Schatz ("Die Mundart von Imst", Straßburg, Trübner 1897 und "Die tirolische Mundart", Innsbruck, Wagner, 1903) fast ganz Oberinntal Bayern zuzuweisen. Auch ist an eine stärkere alamanische Besiedlung unter dem Gotenkönig Theodorich, wie manche Historiker annehmen, nicht leicht zu denken. Es müssen daher die unleugbaren alamannischen Elemente, die sich in Sage, Sitte und Rechtsgewohnheiten, wie überhaupt im ganzen Volkscharakter Oberinntals noch vorfinden, späterer Zuwanderung, wahrscheinlich unter den schwäbischen Welfen und Markgrafen von Ronsberg, welche beide ausgesehnte Besitzungen im Oberinntal hatten, zugeschrieben werden. Vergleiche außer den Forschungen Franz Ludwig Baumanns, des besten Kenners alamannischer Verhältnisse, dem ich diese Mitteilungen verdanke, auch Josef Zösmairs belehrende Programmarbeit "Zur ältesten vergleichenden Geschichts- und Landeskunde Tirols und Vorarlbergs", Innsbruck 1903.

Ist auch der Inhalt dieser verschiedenständigen Sagen, besonders der mit mythischem Kerne, meist derselbe, so verraten doch Name und Fassung ihre Stammeszugehörigkeit. Der oberinntalschen Hulda entspricht die unterinntalische Perchtl, den alamannischen Fenggen die bayerischen wilden Weiber und ladinischen Bregostane, den freundlichen Saligfräulein des Oberinntals und Vinschgaus die wilden Fräulein des Unterinntals und die Delle-Vivane des Faschatals u. s. f. Im übrigen werfen die Tiroler Sagen gleich den in Deutschland gesammelten für die Mythologie verhältnismäßig wenig ab. Interessant sind die häufigen "Berührungen tirolischer Sagen mit antiken". ***)

***) Vergleiche Anton Zingerle: "Berührungen etc." Innsbruck, Wagner, 1894.

Zur Bereicherung des tirolisch-vorarlbergischen Sagenschatzes trug weiter die wechlselvolle Gestaltung des Landes viel bei. Die riesigen Berge mit ihren oft eigentümlichen Formen und Auswüchsen, öden Schutthalden. Runsen und Schluchten, die bald friedlich ruhenden, bald unheimlich brüllenden Bergseen, die krachenden Eisfelder, donnernden Lawinen und Bergstürze, dazu die in diesen Engtälern und Talkesseln doppelt schaurigen Föhnstürme und Hochgewitter mit dem Gefolge plötzlich anschwellender Wildbäche und verheerender Murbrüche, alle diese teils lieblichen, teils furchterregenden Naturbilder und Elementarereignisse mußten die Phantasie des Volkes zur Umbildung dieser Erscheinungen in Sagen mächtig anregen.

So entstanden die vielen Riesen- und Zwergsagen, die Sagen von Drachen und Lindwürmern, von verschütteten Almen, ausbrechenden Seetieren, der wilden Fahrt etc. Die Ausbeutung und besonders der Niedergang des einst blühenden Bergsegens erzeugte die zahlreichen Sagen von Schätzen und schätzehütenden Jungfrauen, von den Goldbrünnlein und goldsuchenden Venedigermännlein, von vergrabenen goldenen Kegelspielen, von der Wünschelrute u. a. Die zahlreichen Burgen und Burgruinen, die uralten Wallfahrtskirchen und Votivkapellen ließen die verschiedenen Burg- und Gründungssagen entstehen, während der zum Aberglauben geneigte Sinn des Volkes einsame Gegenden, Kreuzwege, Wald und Wiese mit Teufeln und Hexen, Pützen und anderen Spukgestalten bevölkerte. Daß bei der tirolisch-vorarlbergischen Sagenbildung auch die geschichtlichen Begebenheiten ihren Anteil nahmen, braucht nicht besonders betont zu werden.

Zur Erhaltung und Fortpflanzung dieses Sagenschatzes trug nicht nur die Abgeschlossenheit der Täler bei, sondern auch ein anderer wichtiger Umstand der, wie mir scheint, bisher noch zu wenig berücksichtigt wurde. Wenn wir den Inhalt der Sagen durchgehen, so finden wir, daß sich ein sehr großer Teil derselben als Strafen für begangene Frevel zu erkennen gibt. Dahin gehören die Sagen vom Grenzsteinverrücker (Marchegger), von übermütigen Bergknappen und unredlichen Sennern, von Religionsschändern, kurz von allen möglichen Frevlern, welche zur Strafe für ihre Schuld am Ort ihres Verbrechens "umgehen" müssen, bis sie die beschwörende Hand eines Paters in diese oder jene Wildnis "verbannt". So bildeten diese Sagen, deren Erzählung im Tale den abendlichen Heimgarten, auf der Höhe die einsamen Sennhütten belebte, auch ein wichtiges Mittel der Volkserziehung, einen von Geschlecht zu Geschlecht sich vererbenden Strafkodex, der in drastischen Beispielen zeigte, was den erwarte, der sich solche Frevel zuschulden kommen lasse. Das hiebei angewendete Prinzip der Abschreckungstheorie hatte, wie die Sage überhaupt, zur ersten Voraussetzung den Glauben der Zuhörer. Schwand dieser, dann erlosch auch die Sage und die sagenbildende Kraft. Der Mund des erzahlenden "Ahnl" verstummt, weil er keine Zuhörer mehr hat.

Dieser Moment trat in Tirol und Vorarlberg ein, als um die Mitte des letzten Jahrhunderts mit der Erschließung des Landes in kommerzieller und geistiger Richtung auch eine Umgestaltung der bäuerlichen Verhältnisse und damit ein Erlöschen des alten patriarchalischen Lebens vor sich ging. Der durch die Eisenbahn erleichterte Verkehr der Talbewohner mit den Städten, die Verdrängung der Hausindustrie und der traulichen Spinnstube, der eigentlichen Heimstätte der Sage, durch Einfuhr von Fabrikware, die allgemeine Wehrpflicht und vor allem die Schule mit ihrer aufklärenden Erziehung der Jugend, nicht zum mindesten in letzter Zeit das in alle Täler dringende Fremdenwesen, verscheuchten allmählich die Erzeugnisse und Ausgeburten eines naiven Volksglaubens und Aberglaubens. Wer jetzt in Tirol und Vorarlberg nach Sagen forscht, wird nur noch von älteren Leuten etwas erfragen, und selbst diese wollen mit der Antwort nicht mehr gern herausrücken, am wenigsten in Gegenwart ihrer "aufgeklärten" Kinder und Enkel.

Es muß daher als ein Glück betrachtet werden, daß, noch rechtzeitig alte und junge Kräfte bemüht waren, diesen reichen tirolisch-vorarlbergischen Sagenschatz zu heben. Als Hauptsvertreter der tirolischen Sagenforschjung kommt Ignaz V. Zingerle in Betracht. Zwar wurde schon vor ihm von Beda Weber und von Pfarrer Thaler in Kuens einzelnes in Werken und Zeitschriften veröffentlicht. Auch Dr. J. E. Waldfreund (Professor Peter Moser) und A. J. Hammerle (gegenwärtig emeritierter k. k. Studienbibliothekar in Salzburg) hatten, ersterer im Unterinntal, letzterer im Oberinntal, zahlreiche Sagen da und dort in Druck gegeben; ja selbst die 1857 verlegte Sammlung "Mythen und Sagen Tirols" von Joh. Nep. R. v. Alpenburg erschien zwei Jahre vor der Zingerles. Trotzdem können als erste systematische und wissenschaftlich gehaltene Sammlung erst die von diesem im Jahre 1859 publizierten "Sagen aus Tirol" (zweite vermehrte Auflage, Innsbruck, Wagner, 1891) angesehen werden. Hier ist zum erstenmale ein reiches, sorgfältig überprüftes Material geboten, das dem Sagenforscher mit wenigen Ausnahmen als verläßliche Quelle dienen kann. Ihr reiht sich würdig in Deutschetirol das im Jahre 1897 erschienene Werk "Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol" von Jos. Adolf Heyl (Brixen, Katholisch-politischer Preßverein) an, das ebenfalls eine reiche Fülle von Sagen aus ganz Tirol bietet, sich vom Zingerle'schen jedoch dadurch unterscheidet, daß es den Stoff nach den Haupttälern geordnet gibt. Viele Sagen sind überdies in der Mundart des betreffenden Tales erzählt, was der Sammlung auch einen sprachlichen Wert verleiht. Der Umstand, daß, es auch für die studierende Jugend berechnet ist, machte leider die Weglassung, beziehungsweise Abschwächung mancher anstößiger Partien und bedenklich erscheinender Stellen notwendig.

Der italienische Teil Tirols erhielt durch Christian Schneller (gegenwärtig als Hofrat und Landesschulinspektor a. D. in Innsbruck) einen eifrigen Forscher. Seine "Märchen und Sagen aus Welschtirol" (Innsbruck, Wagner 1867) erhalten dadurch ein erhöhtes Interesse, daß sie fast durchwegs deutschen Inhalt tragen. Schneller nennt sein Buch daher mit Recht "einen Beitrag zur deutschen Sagenkunde". Das gleiche gilt von meinen 1872 veröffentlichten "Mythologischen Beiträgen aus Welschtirol" (Sonderabdruck aus dem 15. Bande der Ferdinandeums-Zeitschrift), welche größtenteils Sagengestalten aus dem Faschatale bringen und sich mit den von Schneller veröffentlichten zum Teile decken. Auch der ladinische Teil Südtirols stellte sein Kontingent, indem der auf so traurige Weise hingeraffte Professor Dr. Joh. Alton in seinem Buche "Proverbi, tradizioni, e anneddoti delle valli ladini orientali con versione italiana" (Innsbruck, Wagner, 1881) die ladinischen Sagen der Vergessenheit entriß. Es war zu hoffen, daß die neugegründete Zeitschrift "Der Ladinerfreund" in ihrer wissenschaftlichen Beilage "Archiv für rätoromanische Sprachforschung und Volkskunde" (Innsbruck, Wagner 1905) auch dem Sagengebiete seine Aufmerksamkeit zuwenden werde. Leider ist die Zeitschrift wieder eingeschlafen. Von deutschtirolischen, ein kleineres Gebiet umfassenden Sammlungen wäre noch das sehr inhaltsreiche Buch von Direktor Alois Menghin "Aus dem deutschen Südtirol" (Meran, Plant, 1884) zu nennen, das unter anderem wertvolle Mythen, Sagen und Legenden enthält, ferner die fleißig zusammengestellte Sammlung von Ferdinand Dörler: "Sagen aus Innsbrucks Umgebung mit besonderer Berücksichtigung des Zillertales" (Innsbruck, Wagner, 1895), endlich Christian Hausers "Sagen aus dem Paznaun und dessen Nachbarschaft" (Innsbruck, Wagner, 1894), ein Büchlein, das sich durch eine vollständig verläßliche und treue Wiedergabe der Volksüberlieferung auszeichnet.

Für tirolische Sagenforschung wertvoll sind außer Anton Renks in seinem Büchlein "Im oberen Inntal Tirols (Innsbruck, Wagner, 1897) eingefügten Beiträgen besonders I. A. Hammerles "Sagen und Märchen" (Innsbruck, Witting, 1854) zu erwähnen, welche Sammlung vorzüglich Sagen aus dem Oberinntal enthält und so eine Seitenarbeit zu Peter Mosers' 1855 in der "Donau" und 1865 im "Pustertaler-boten" veröffentlichten "Volkssagen aus Tirol (Unterinntal)" bildet. Das Nachbarland Vorarlberg besitzt in dem umfangreichen Werke "Die Sagen Vorarlbergs", nach schriftlichen und mündlichen Überlieferungen gesammelt und erläutert von F. I. Vonbun, zweite vermehrte Auflage von Hermann Sander (Innsbruck, Wagner, 1889), eine mustergültige Sammlung des alamannischen Sagenschatzes.

Neben dieser Art der Sagenforschung, welche bemüht war, die Überlieferung möglichst treu wiederzugeben, machte sich in Tirol, schon frühzeitig eine andere Richtung geltend, welche nicht so sehr den wissenschaftlichen Wert vor Augen hatte, sondern den belletristischen, und sich mit der poetischen oder prosaischen Bearbeitung teils einzelner Sagen, teils größerer Sagenkreise befaßte. Auch diese lohnende Ausbeutung des Sagenstoffes ging von I. V. Zingerle aus. Angeregt durch Simrocks "Rheinsagen" gab er im Jahre 1850 eine derartige Sammlung von "Sagen aus Tirol" heraus, in welcher er alles, was von Tiroler Sagen in Poesie und Prosa bisher zerstreut erschienen war, sammelte und mit eigenen Bearbeitungen vermischt, nach Tälern geordnet, veröffentlichte. Das Büchlein sollte vor allem das "Interesse für die vaterländische Sage wecken" und hat dieses Ziel auch insoferne erreicht, als es die tirolische Sagenforschung anbahnte. Leider hielten sich manche Sammler der Form nach an die im genannten Buche gegebenen Vorbilder, und statt bei der Wiedergabe die schlichte Erzählungsart anzuwenden, wie sie das Volk liebt, wurden die Sagen durch Zutaten alteriert und durch poetische Ausschmückung des wahren Gehaltes und damit des wissenschaftlichen Wertes beraubt. Diese willkürlichen Verschönerungen auf Kosten der Wahrheit tun auch den so inhaltsreichen "Mythen" Alpenburgs bedeutenden Eintrag, was umsomehr zu bedauern ist, als sich eine große Anzahl von Mythologen und Sagenforschern dieses Sammelwerkes als Quelle bedient. †)

†) Dies gilt auch von Alpenburgs "Deutschen Alpensagen" (Wien, 1861).

Eine weitere schwimme Folge solcher freier Bearbeitungen der Sage war, daß bei der großen Verbreitung, welche derartige anziehend geschriebene Bücher hatten, viel gefälschter Sagen- und Märchenstoff ins Volk getragen und so der ursprünglich reine Sagenquell getrübt wurde. Ein Beispiel dieser Art bietet die Sage von der Frau Hitt, welche inhaltlich durch die abweichenden Bearbeitungen von Beda Weber, K. E. Ebert, E. Silesius und Karl Lutterotti so verwirrt wurde, daß der echte Inhalt sich jetzt kaum mehr herausfinden läßt.

Wenn nun auch vom Standpunkte der Wissenschaft eine solche Verwertung des Sagenstoffes durchaus nicht zu begrüßen ist, so verdankt ihr doch die schöne Literatur in Poesie und Prosa manche duftige Blüte. Dahin gehört außer den "Sagen aus dem Kaisergebirge, gesammelt von einem Kaiserbergfreunde" (A. Karg) und den "Poetischen Wanderungen durch die Kaiserberge" von Paul Greußing das durch A. Shlatig schön illustrierte Werk von Artur Foltin: "Tiroler Alpensagen" (Stuttgart, Greiner u. Pfeiffer, 1897). Hier sind die "hauptsächlichsten Figuren der Tiroler Sagen herausgenommen und in ihrem Tun und Treiben, ihren charakteristischen Merkmalen und Eigenschaften dem Leser vor die Augen geführt". Der Verfasser geht hiebet so vor, daß er die "einzelnen Märchen (wohl richtiger Sagen!) in die gemeinsame Gewandung einer besonderen Novelle einkleidete, in deren Rahmen sie sich als Spinnstubenerzählungen präsentieren". Die Sachen sind frisch erzählt, doch gerade der Umstand, daß Foltin, um die zu behandelnden Sagen möglichst genau zu geben, bestrebt war, sie nicht "allzu innig mit der sie umhüllenden Novelle zu verknüpfen", ließ eine Zwitterbildung entstehen, welche den poetischen Genuß schwächte und schließlich die Sagenbilder doch nicht zur klaren Gestaltung brachte.

Die Kunst, Sagen in novellistisches Gewand zu hüllen und die mystische Vergangenheit mit der Gegenwart zu einem harmonischen Ganzen zu formen, ist meines Erachtens nur einem Tiroler gelungen, nämlich dem Dichter Martinus Meyer. Schon die in der oben genannten Zingerle'schen Anthologie sowie in den verschiedenen Zeitungen unter dem Pseudonym Martinus enthaltenen Stücke machten allgemeines Aufsehen und erweckten den Wunsch, dieselben gesammelt zu sehen. Dies geschah durch die Herausgabe des klassischen Buches: "Sagenkränzlein aus Tirol von Martin Meyer" (Pest - Wien, Hartleben, 1856), von welchem im Jahre 1884 die zweite vermehrte und verbesserte Auflage folgte und jetzt die dritte (Innsbruck, Wagner, 1905) vorliegt. Martinus Meyer hat - richtiger gesagt, hatte, denn der wackere Mann ist vor einigen Jahren gestorben - eine eigene Gabe, das Wesen der Sage, wie den Tiroler .Volkscharakter herauszuspüren und in künstlerischer Weise darzustellen, hiebei sind Sage und Wirklichkeit so verwoben, daß wir die verbindenden Nähte gar nicht merken. "Der Karfunkel", "Drei Dirndlen und drei Herzen", "Der verschlafene Hans" u. a., wer könnte diese kleinen, tiefsinnigen und innigen Dorfgeschichten ohne Rührung lesen! Daneben macht sich ein unvergleichlicher Humor geltend, wie z. B. im "Schroffensteiner Weinfaß" u. a. Martin Meyer hat noch ein zweites Büchlein dieser Art erscheinen lassen: "Schlernsagen und Märchen" (Innsbruck, Wagner, 1891). Es verdankt einem Sommerfrischaufenthalte des Dichters im Bade Ratzes seine Entstehung und trägt, den Schrecknissen der Dolomiten entsprechend, durchschnittlich einen mehr düsteren Charakter. Erreicht dieses Buch an Schönheit und Gehalt auch nicht das "Sagenkränzlein", so bildet es doch immer noch einen Schmuck in der tirolischen Sagennovellistik.

Zur Vervollständigung unseres Themas müssen wir anführen, daß der tirolische Sagenschatz auch zur Bearbeitung größerer Stoffe in Poesie und Prosa herangezogen wurde. So hat Christian Schneller in seinem Epos "Am Alpsee" (Innsbruck, Wagner, 1860), die tirolische Undinensage, Angelika von Hörmann die liebliche Sage von den "Saligfräulein" (zweite Auflage, München, Lindauer, 1897) poetisch verherrlicht, Rudolf Greinz behandelte in seiner humorvollen Novelle "Das goldene Kegelspiel" (Leipzig, Staackmann, 1905), eine der vielen Schatzsagen, während Franz Dolliner in seiner "Frau Hitt" (Innsbruck, Wagner, 1904) diese oft behandelte Sage zu einem spannenden Roman verarbeitete.

Nach Schluß der Arbeit kam mir noch ein bei Pierson in Dresden erschienenes Epos "Die Saligen", eine Romanze aus den Tiroler Alpen, zu, welches den bekannten deutschen Dichter Ewald Müller zum Verfasser hat und in glücklicher Weise und in schwunghaften Versen denselben Sagenstoff zur Ausprägung der Idee von der beseeligenden Betätigung des "Ewig Weiblichen" verwertet. (Österr. Rundschau.)

Quelle: Ludwig von Hörmann, Über tirolische Sage und Sagenforschung. In: Innsbrucker Nachrichten, 53 Jg., Nr. 187, 17. August 1906. S. 1 - 5.
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