Der Geißbub.
Von Oswald Heiderich.
(Dr. Ludwig von Hörmann)

Ein ungemein liebliches, bewegtes Bild entfaltet sich vor unsern Augen, wenn wir an einem Sommerabend ein Alpendorf passieren und mit der heimkehrenden Gaisherde zusammentreffen. Das Gemecker und Geklingel elektrisiert alle Kinderfüße, selbst der kleinste Knirps in den ersten Höslein watschelt den Kommenden entgegen, die geführt von der stolzen "Vorgoas" mit der großen Schelle in die Dorfgasse einziehen. Mit dem Lockruf: "Gös, gös, gös" sticht sich jedes der Kinder seine Gais heraus, nimmt sie jubelnd um den Hals und läuft mit ihr dem gewohnten Stalle zu. Hierhin und dorthin stiebt die muntere Schar, so daß endlich nur der Geisbub allein übrig bleibt, der dann ebenfalls seine Heimat aufsucht.

Dieser Geisbub ist ein originelles Bürschchen. Unter dem alten braunen Filzhute, der vom oftmaligen Naßwerden eine Schüsselform angenommen, schaut ein wetterbraunes Gesicht hervor mit ein paar trotzigkecken Augen, denen man das Strolchen in der freien Bergwelt ansieht. Ein lumpiges geflicktes Höslein, ein grobes Hemd, manchmal auch eine Joppe ist die ganze Bekleidung des kleinen Freiherrn. Beim Sonnenschein geht er barfuß, bei nassem Wetter steckt er seine Füße in Holzschuhe, sog. Knospen. Über der Schulter trägt er einen groben Kotzen geworfen, zum Schutz gegen Regen und Unwetter; an der Seite hängt der Schnappsack, in dem sich ein frugales Mittagsmahl befindet, und das Bockshorn; in der Hand führt er eine "Geisel" (Hirtenpeitsche) oder einen Stock. Auch eine "Gschpachtl", im Unterinntal "Gschpadal" genannt, d. i. eine hölzerne Schachtel voll Butter und Brot, nimmt er mit sich, denn das Herumklettern mit den stinken Ziegen macht Hunger.

Der Geisbub oder "Goaser" wird von der Gemeinde gegen geringen Lohn angestellt; die Kost genießt er abwechselnd bei den einzelnen Bauern, die ihm ihre Geisen anvertrauen. Das Amt ist beschwerlich genug. Wenn der erste Strahl der Morgensonne die Bergspitzen vergoldet, geht er durch die Dorfgassen und tutet aus Leibeskräften in sein Bockshorn. Auf diese Reveille hin öffnet sich knarrend eine Stalltür nach der andern, und in lustigen Sätzen und mit hellem Geklingel springen die soeben gemolkenen Ziegen heraus. Diese rotten sich zusammen, die ortskundige und herrschsüchtige "Vorgoas" stellt sich an die Spitze und führt ihre Herde in raschem Trabe über Halden und Gebüsch aufwärts der Alpenregion zu. Hinterdrein klettert schreiend, scheltend und tutend der Geisbub, der oft seine liebe Not mit der Herde hat. Denn die Ziegen sind "ein vertoiflts Kunter" (verteufeltes Vieh), sagen die Hirten. Bald eilen sie wie besessen aufwärts über Stock und Stein und klettern über schwindlige Felsen, daß dem Hirten die hellen Schweißtropfen von der Stirne rinnen; bald bleiben sie am Wege stehen und naschen vom Zaungras und von den jungen Fichtenschößlingen, springen über Mauern oder durchbrechen Zäune, kurz gebärden sich so störrisch und eigensinnig, daß dem armen geplagten Buben nicht selten das Weinen näher ist als das Lachen.

Von besonderem Einfluß ist dabei die Vorgeis. Eine schlechte macht dem Hirten ebenso viel Sorg' und Mühe, als ihm eine gute erspart. Dieselbe ist sich aber auch ihrer Wichtigkeit vollkommen bewußt. Sie duldet keine andere Geis vor sich, und will sich eine das Recht anmaßen, so gibt es einen hitzigen Kampf. Gegen den Hirten sind die Ziegen durchaus nicht scheu, sie treiben im Gegenteil gern ihr neckendes Spiel mit ihm. Oft springt eine gerade auf ihn zu und stößt ihn mutwillig zu Boden, oder sie gesellt sich schmeichelnd zu ihm und beißt ihn häufig als höchste Gunstbezeugung in das Ohrläppchen. Ihre besondere Passion sind auch die Federn oder Blumen, die der Bube auf seinem Hute stecken hat; sie werden eiligst herabgerissen und windschnell davongetragen. Der Charakter der Ziegen hat überhaupt etwas Neckisches, Diebisches und Kapriziöses; sie spielen dem Hirten Schabernak über Schabernak, so daß auch der sanfteste, geduldigste Junge in solcher Gesellschaft das Fluchen erlernen muß. Daher das alte Sprichwort: "Wer fünf Jahre Geiser ist, wird des Teufels." Es kommt übrigens sehr viel darauf an, wie der Hirt seine Herde zu lenken versteht. Während sie den einen necken und Plagen, folgen sie dem andern gutwillig und drängen sich auf seinen Ruf: "Gös, gös!" mit Ungestüm um ihn, sollten sie auch noch so weit von ihm entfernt sein.

Der schlimmste Zufall aber ist es, wenn sich eine Geis "versteigt", d. h. in ein Gesträuch gerät und sich dort mit den Hörnern oder Füßen derart verstrickt, daß sie nicht mehr heraus kann, oder wenn sie gar "eingestiegen" ist, d. h. sich auf einem Felsen in so gefährlicher Position befindet, daß sie sich weder vor- noch rückwärts getraut. Das Tier bleibt dann stehen, oft ein, zwei Tage lang, ohne Nahrung und schwebend zwischen Leben und Tod, bis der Hirt es endlich findet und oft mit größter Lebensgefahr rettet.

Diese Geisbuben, die Tag für Tag die steilsten Alpenspitzen erklimmen, sind die verwegensten Bergsteiger und tollkühnsten Kletterer; dabei haben sie Augen wie ein Jochgeier und Sehnen, fest und geschmeidig wie zähe Zundernäste.

Gewöhnlich erreicht der Geishirt mit seiner Herde gegen die Mittagszeit eine Alpenhütte, wo er bereits erwartet und hochwillkommen ist. Denn er ist für die Alpenleute eine Art lebendige Zeitung, aus der sie erfahren, wie es drunten in der Welt zugeht. Er wird um alle Neuigkeiten ausgefragt. Grüße werden hin und wieder aufgegeben, und im Tal erzählt er dann wieder von dem Tun und Treiben der Älpler. Von der Alpenhütte aus läßt er feine Herde allein weiter aufwärts steigen und bleibt den Tag über bei den Sennleuten, denen er allerlei kleine Dienste verrichtet. Zum Lohne erhält er eine tüchtige Butterschnitte, die er sich wohlschmecken läßt.

Gegen Abend kommt die Geisherde wohlgefüttert und mit strotzenden Eutern wieder zur Hütte herab, und der Geisbub macht sich mit ihr auf den Heimweg. Flink geht es abwärts, über Stock und Stein, und bald ist das heimatliche Dorf erreicht, und die Herde in den verschiedenen Ställen versorgt. Der "Geiser" aber freut sich nun auf warmes Abendessen und kriecht bald in sein ärmliches Heubett, das ihm nach der Anstrengung des Tages sicher so weich dünkt, als das prächtigste Eiderdunenkissen.

Quelle: Ludwig von Hörmann (pseud. Oswald Heiderich), Der Geisbub, in: Der Alpenfreund, Monatshefte für Verbreitung von Alpenkunde unter Jung und Alt in populären Schilderungen aus dem Gesammtgebiet der Alpenwelt und mit praktischen Winken zur genußvollen Bereisung derselben. HG Dr. Ed. Amthor, 4. Band, Gera 1872, S. 302 - 304.
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