WUCHERBLUME (Johannesblume, Marguerite, Orakelblume; Leucanthemum vulgare, veraltet: Chrysanthemum leucanthemum)

aus: E. Hoffmann-Krayer, H. Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens,
Berlin und Leipzig 1932

1. Botanisches. Der kantige, 30 - 60 cm hohe Stengel dieses Korbblütlers trägt oben wechselständige, lanzettliche Blätter und an der Spitze den Blütenkopf. Die Strahl-(Rand-, Zungen-)blüten sind rein weiß, die röhrenförmigen Scheibenblüten gelb. Die Wucherblume ist überall auf Wiesen, an Wegrändern usw. häufig 1).

1) Marzell Kräuterbuch 278. Vgl. auch Marzell Wie heißt die Marguerile im Volksmund? In: Volkskundliche Gaben. John Meier zum 70. Geburtstag dargebracht. 1934, 130-137.

2. Die Wucherblume wird vor allem von Kindern oder von Liebenden als "Orakelblume" benutzt. Man zupft dabei die weißen Strahlblüten aus und achtet, welche Frage usw. auf die letzte Strahlblüte fällt. Sie ist die "Sternblume", die Margarete in Goethes "Faust" mit den Worten: "Er liebt mich - liebt mich nicht" befragt 2). Auch den Stand (Beruf) des "Zukünftigen" oder (bei Knaben) den späteren Beruf kann man auf diese Weise feststellen. Hier lauten z. B. die Reime "Edelmann, Beddelmann, Baur, Soldat, König, Kaiser, Advokat" (Schleswig-Holstein) 3) oder "Edelmann, Bettelmann, Bürger, Bauer, Bäuerin, Kellnerin, Jungfrau, Stadtfrau, Drecksau" (Altbayern) 4). Ähnliche Befragungen stellt man an die Wucherblume auch in Dänemark ("herrenmand, aeremand, ridder" usw.) 5), in Frankreich (z. B. "elle m'aime un peu, beaucoup, par fantaisie, par jalousie, pas du tout" usw) 6), in Italien 7), in den Vereinigten Staaten von Amerika ("rich man, poor man, beggar man, thief; doctor, lawyer, Indian chief" usw.) 8). Andere kindliche Orakel heißen z. B. "Himmel, Höll, Fegfür" 9), "Haus, Häusel, Hütt'n" (das einst zu erwartende Besitztum) 10), "Auto, Schesn, Steiawagl, Schubkarm" 11), "'kaft (gekauft), g'fun.den', g'stohln" (Herkunft eines Gegenstandes) 12), "schea (schön), schiach (schlecht)" (Wetterorakel in Oberbayern) 13). Um zu erraten, ob der erste Sprößling ein Bub oder ein Mädel ist, sagt man beim Zupfen: "Bueb ? Meitli ? Bueb ? Meitli ?" 14). Auch sonst wird die Wucherblume vielfach im Orakel verwendet. In Oberösterreich zupft man die Strahlblüten bis auf eine aus und dreht dann den Blütenstengel mit den Worten "Spitz, spitz, wo mein Weib sitzt rum". Wo nach dem Drehen die Strahlblüte hinzeigt, aus der Gegend ist die Zukünftige 15). Ein ähnliches Orakel wird auch aus der Schweiz 16) und aus dem Ötztal in Tirol 17) berichtet. Im Kanton St. Gallen legen Mädchen in der 10000 Ritternacht drei Blütenköpfe in ein leeres Trinkglas; jede der drei Blütenköpfe erhält den Namen eines Liebhabers. Sind am Morgen alle Blumen verwelkt, so wird keiner der Burschen der ihre; bleibt dagegen eine frisch, so wird es der dem Namen der Blume Entsprechende 18). In Oberösterreich 19) und in Gottschee 20) legt man Blütenköpfchen, denen man den Namen der Hausbewohner, Verwandten usw. gibt, auf ein Brett, steckt sie in die Erde oder in den Türstock, wessen Blütenköpfchen am nächsten Morgen verwelkt ist, der stirbt in diesem Jahr. Das Orakel wird ab und zu am Johannistag angestellt 21). Ein weitverbreitetes Orakel (der Kinder) ist es, die gelben Scheibenblüten der Wucherblume auf die flache Hand zu legen und dann in die Höhe zu werfen. Aus der Zahl der wieder aufgefangenen Blüten schließt man auf die Jahre, die man noch leben wird 22) oder auf die Zahl der Kinder in der Ehe 23). Aus der Zahl der aufgefangenen Blüten sieht man auch, wieviel Läuse das Kind hat (Pilsen) 24) oder wieviel Engel (oder Teufel) das Kind dereinst an den guten (oder schlimmen) Ort tragen werden 25).

2) Vgl. Lewalter-Schläger 301.
3) Mensing Schlesw. Wb. 1, 989.
4) Marzell Bayerischer Volksbote 89.
5) Feilberg Ordbog 1, 530.
6) Sébillot Folk-Lore 3, 503; Rolland Flore Pop. 7, 52; Beauquier Faune et Flore 2, 249; SchweizVk. 3, 16.
7) Pitrè Usi 3, 260.
8) Klöpper Folklore in England und Amerika 1899, 35; Bergen Superstitions 44.
9) Schweiz-Id. 5, 75.
10) Weinkopf Naturgeschichte 59; ähnlich Sudetend. Zeitschrift für Volkskunde 2 (1929), 158; in Belgien: "maison, baraque, chäteau" ; Sébillot Folk-Lore 3, 504.
11) Sudetend. Zeitschrift für Volkskunde 4 (1931), 96.
12) Weinkopf Naturgeschichte 59; SchweizVk. 10, 37.
13) Marzell Bayerischer Volksbote 89.
14) Kummer Volkst. Pflanzennamen usw. aus dem Kt. Schafhausen 1928, 116.
15) Baumgarten Aus der Heimat 149.
16) ZfdMyth. 4, 176.
17) Zingerle Tirol 1857, 69.
18) Wartmann St. Gallen 22.
19) Baumgarten a.a.0. 149.
20) Satter Gottscheer Pflanzennamen 12.
21) ZfVk. 6, 407 (Iglauer Sprachinsel); Schweiz-Id. 5, 79; hier könnte auch ein anderes "Johanniskraut", die Fetthenne (siehe 2, 1386), gemeint sein.
22) Kummer Volkst. Pflanzennamen usw. aus dem Kt. Schaffhausen 1928, 116.
23) Mülhause Hessen 249; Fischer Oststeierisches 100; Marzell Bayerischer Volksbote 89; Böhmerwald-Jahrbuch 2 (1924), 15; ZfVk. 11, 64; Sudetend. Zeitschrift für Volkskunde 2 (1929), 158; SchweizVk. 10, 36; Sébillot Folk-Lore 3, 504; Rolland Flore pop. 7, 53; Bergen Superstitions 44.
24) ZfVk. 11, 64.
25) Lütolf Sagen 106.

3. Die Wucherblume, die auch "Johannisblume" oder "Sonnwendblume" heißt, weil sie um die Sommersonnenwende in schönster Blüte steht (vgl. auch die verwandte Arnika, siehe 1, 597f.), spielt im Johanniskult eine Rolle. In Nordböhmen machen die Kinder am Johannisvorabend aus diesen Blumen die sog. "Johannesbocht" oder "Johannesstreu" und legen darauf die Figur des hl. Johannes (oder in Ermangelung davon ein Heiligenbild). Am Morgen des nächsten Tages hofft das Kind eine Gabe unter oder auf den Blumen (Johannisbett) zu finden 26). Wenn im Krankheitsfall ein Tee gekocht wird, gibt man einige Blättchen aus der "Johannesbocht" dazu. Die Mädchen werfen am Vorabend vor Johanni nach rückwärts einen Kranz von Wucherblumen auf einen Baum und sagen dazu: "Lieber Schatz, ich rufe dich, zum Altar bald führe mich". Bleibt der Kranz an einem Ast des Baumes hängen, so heiratet das Mädchen noch im gleichen Jahr. Auch wird der Kranz unter das Kopfkissen gelegt, dann erscheint der zukünftige Gatte im Traum 27). Um Gottschee wird am Johannisabend ein Strauß Wucherblumen aufs Dach geworfen. Fällt er so auf, daß die Blüten nach oben zu liegen kommen, so kommt der, der ihn geworfen hat, in den Himmel; wenn die Blüten nach unten gekehrt sind, in die Hölle; bleibt der Strauß der Quere nach liegen, so erwartet den Betreffenden das Fegfeuer. Im ersten Fall schließt man auch auf langes Leben, baldige Heirat usw. 28). In der Eifel werden die am Johannistag zu Kränzen gewundenen Wucherblumen ("Kranzblumen") als Schutz gegen Blitz und Feuersbrunst auf die Dächer geworfen 29), in Vorarlberg hängt man solche "Johanneskränze" als Schutz vor Blitz und anderem Unheil an Türen und Scheunen auf 30), im Isergebirge müssen diese "Johannisblumen" als Blitzschutz im Ofen verbrannt werden 31). Ebenda werfen die Mädchen am Johannistag "Johannisblumen" ins Wasser; jenes Mädchen, dessen Blume zuerst untersinkt, kommt zuerst "unter die Haube". Auch in Hessen 32) und am Niederrhein 23) enthalten die "Johanniskränze" Wucherblumen, vgl. Hartheu (3, 1488).

26) ZföVk. 12, 214; MnböhmExc. 23, 44.
27) Ebd. 25, 180.
28) Satter Gottscheer Pflanzennamen 12.
29) Verh. naturhist. Ver. d. preuss. Rheinlande u. Westfal. 22 (1865), 286.
30) Hörmann Volksleben 117. Ebenso in Belgien: Rolland Flore pop. 7, 55.
31) DVöB. 7, 173.
32) Heßler Hessen 2, 356.
33) ZrwVk. 12, 92; vgl. auch Rolland Flore pop. 7, 54.


Marzell.