Die alten Steinkreuze in Mitteleuropa


Von Dr. Kuhfahl, Dresden-A, 16.
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Unter den mancherlei Rätseln, die uns die Vergangenheit aufgegeben hat, sind die sogenannten „alten Steinkreuze" sicherlich eines der seltsamsten und geheimnisvollsten. Als sichtbare Überbleibsel einer uralten weltumspannenden Idee stehen sie noch heute vor unseren Augen. Grobe Blöcke von 1 bis 2 Meter Höhe, von ungelenken Händen zur Form des Kreuzes gestaltet, manchmal mit kindlichen Strichzeichnungen von allerhand Waffen und bäuerlichen Geräten, seltener dagegen mit altertümlichen Jahreszahlen oder Schriftzeichen versehen, so begegnen wir ihnen regellos bald einzeln, bald in kleinen Gruppen in den Ortschaften, an alten Wegen, im Walde oder in der freien Feldflur.

Die verschiedensten Möglichkeiten der handwerklichen oder künstlerischen Form, die der einfache Gedanke des gekreuzten Balkens gestattet, sind hier verkörpert; manchmal wurden die Winkel zwischen den Kreuzesarmen nicht ganz ausgehauen und das Gestein in Gestalt einer runden oder länglichen Scheibe stehen gelassen. Vielfach ist aus dem Kreuz eine runde Scheibe mit Untersatz oder eine rechteckige Platte geworden, auf denen die Kreuzgestalt oder die Strichzeichnung in flacher Plastik herausgemeißelt wurde. Ja, hundertfach begegnen wir sogar in unbearbeiteten Feldsteinen des deutschen Tieflandes nur der Einmeißelung von Waffenbildern, oder sonstige Zeichen der übrigen Steinkreuze lassen eine ähnliche Bestimmung des Steines erkennen.

Steinkreuz-Formen

Steinkreuz-Formen

Zahllose Stücke sind zweifellos durch die Zeit oder durch Menschenhände zerstört worden, ebenso viele sicherlich auch bis heute unentdeckt geblieben, aber trotzdem lässt sich die Zahl der bekannten Stücke auf mehr als 3000 schätzen. Wir begegnen ihnen durch ganz Mitteleuropa hindurch, von Spanien, Norditalien und Mähren bis hinauf zu nordischen Inseln, und wir finden sie in gleicher Form von den Gebirgszügen westlich des Rheines bis weit hinaus im Osten am Peipussee, an der Beresina und sogar im westlichen Kaukasus. Dies riesenhafte Verbreitungsgebiet geht räumlich weit über die Stammessitze einzelner Völker hinaus und lässt nur im ganzen auf eine Beteiligung der Germanen schließen.

Von wem? Seit wann? Wozu wurden diese unvergänglichen Zeugen menschlichen Daseins aufgestellt? Das Volk von heute weiß manchmal eine Antwort zu geben und fabelt mit furchtsamer Geste von Mord und Totschlag, von gefallenen Helden und großen Kriegen, von allerhand Spuk und Hexerei. Volkskundliche Erzählungen aus alter Zeit tragen selten den Stempel der Wahrheit an sich, und nur aus ihrer Gesamtheit lässt sich der gemeinsame Grundgedanke herauslesen, dass ein gewaltsamer Tod an einsamem Ort und eine blutige Tat den Anlass gegeben haben. Der Name „Mordkreuz" taucht im Volksmund in den verschiedensten Ländern auf und in Übereinstimmung damit finden wir zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert in Urkundsbüchern des deutschen Sprachbereichs, aber vereinzelt auch in slawischen Gebieten, das Steinkreuz als Sühnezeichen mittelalterlicher Strafrechtspflege neben kirchlichen und finanziellen Leistungen ausdrücklich erwähnt. Hunderte von Gerichtsurteilen und Wahlsprüchen lassen sich aus alten Akten kirchlicher und weltlicher Herren herauslesen. Beim Ausgang der Steinkreuzsitte ist der Sühnegedanke also sicherlich der vorherrschende gewesen. Die zünftige Geschichtswissenschaft, die sich seltsamerweise mit diesem sichtbaren Zeugnis der Vergangenheit kaum beschäftigt hat, weiß infolgedessen über Zweck und Ursprung fast nichts zu sagen. Die Erforschung der alten Maler in der Landschaft und die Aufzeichnung der Standorte, Eigenschaften und Bilder ist in Dutzenden von Ländern zunächst von heimatliebenden Dilettanten gemacht worden und hat an einzelnen Stellen eine gewisse Vollständigkeit erreicht. So sind im deutschen Reiche in Bayern mehr als 800, in Schlesien mehr als 600, in Sachsen mehr als 400 Standorte genau verzeichnet und auch anderwärts kleinere Bezirke ziemlich gründlich durchsucht worden. Merkwürdigerweise lässt die Gesamtheit dieser Forschungen den Kulturbereich der Alpenländer zwischen Wien und Nizza vollkommen frei, so dass in Tirol nur ein einziges Steinkreuz im Bereich der alten Brennerstraße, und zwar im Inntal bei Hall, festgestellt worden ist und aus der Schweiz überhaupt jede Meldung fehlt. Das Steinkreuz bei Küßnach, das mir einmal von reichsdeutschen Wanderern gemeldet wurde, zählt seiner künstlerischen Form und seiner Jahreszahl 1730 nach schwerlich zu diesen alten Mordkreuzen und ist jedenfalls mit der alten Tell-Sage nicht in Verbindung zu bringen.

Trotzdem lässt sich aber mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass die alten Siedlungsstätten und Verkehrswege der Alpenländer in ähnlicher Weise vom Steinkreuzproblem berührt worden sind, wie die benachbarten Gebiete im Norden und Süden. Ich möchte die Aufmerksamkeit aller Alpenwanderer deshalb wiederholt auf die seltsame Erscheinung des Steinkreuzes lenken und die Bitte anfügen, dass uns möglichst ausführliche Angaben und Bilder bei vorkommenden Funden zugesandt werden möchten.

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Zu unserer Frage über Steinkreuze wurde uns noch mitgeteilt:

1. Die Sage vom steinernen Kreuz in Rüdlingen.

Das steinerne Kreuz in Rüdlingen

Das steinerne Kreuz in Rüdlingen

In Rüdlingen lebten zu der Zeit, als die Reformation eingeführt wurde, zwei Brüder, die in besonders inniger Liebe miteinander verbunden waren. Dies änderte sich auch nicht, als der eine von ihnen mit den übrigen Bewohnern des Dorfes zur neuen Lehre übertrat, der andere aber dem Glauben seiner Vater treu bleiben wollte und infolgedessen in eine katholische Gegend auszuwandern beschloss. Bevor sie sich trennten, meißelten sie ein Kreuz in einen Stein, gruben diesen auf der Höhe über Nüdlingen an einem Kreuzweg ein, gelobten sich ewige Liebe und Treue und versprachen, sich jeweils an jedem längsten Tage des Jahres bei dem Steine zu treffen. Viele Jahre hielten sie dies getreulich ein. Als jedoch einst der in der Heimat verbliebene Bruder wieder zu dein Stelldichein kam, war der Stein umgeworfen und darauf glänzten drei frische Blutstropfen. Er wusste, was geschehen war. Man fand ihn später tot neben dem Stein liegen. Der Stein selbst konnte nicht mehr von seinem Platze entfernt werden. Sowie jemand ihn ausgraben wollte, fielen drei Tropfen Blut auf die Schaufel oder die Hacke, und die Hand, die das Werkzeug führte, sank gelähmt nieder.

Erst zu Beginn dieses Jahrhunderts scheint der Bann gebrochen worden zu sein. Wenigstens wurde zu dieser Zeit der Stein ausgehoben und an der alten Stelle am Fuß einer jungen Linde — leider — in eine Zementfassung eingesetzt, wo er heute noch steht. Der Weiler, der allmählich an der Straßenkreuzung entstand — es sind heute 11 Häuser —, wurde „Zum Steinern Kreuz" genannt. Die Sage will noch wissen, dass die beiden Brüder dem Geschlecht der Simmler entstammten, von denen es heute noch einige Familien in Rüdlingen gibt. Diese Vermutung oder Überlieferung ist wohl dadurch zustande gekommen, dass es auch in der benachbarten badischen Umgebung Angehörige des Geschlechts Simmler gibt, so z. B. in Nack bei Lottstetten. Der seinerzeit ausgewanderte Rüdlinger Simmler soll sich jedoch auf einem Hof bei Balterswil niedergelassen haben (Altviererhof?).
Bern.          Dr. Alfred Keller.

2. Literaturangaben.

Zellweger, D. Kt. Appenzell (1867) S. 244, 1860: Ein Mörder soll auf der Mordstätte genau nach Vorschrift ein steinernes Kreuz errichten lassen.

St. Gallen (mündl. Mitt.): Wenn früher jemand plötzlich (auf der Straße) starb, wurde an der Todesstelle ein Kreuz oder ein „March" (kleiner runder Stein mit Kreuz und Jahrzahl) aufgestellt.

Robert Durrer, Kunstdentmaler von Unterwalden ist S. 632 das Sühnekreuz für den 1486 ermordeten Landammann Dionysius Heinzli in Samen abgebildet und erläutert. Das Stück ist übrigens schon früher im Anz. F. schw. Altertumskde. 1892, S. 21, publiziert, wo auf weitere urkundliche Analogien aufmerksam gemacht wurde.

Quelle: Kuhfahl, Die alten Steinkreuze in Mitteleuropa, in: Schweizer Volkskunde, Folk-Lore Suise, Korrespondenzblatt der Schweizer. Gesellschaft für Volkskunde. Bulletin mensuel de la Société suisse des Traditions populaires., 20. Jahrgang, 1930, S. 1 - 5.
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